Zum verrückt werden
Die Normalisierung des Verrückten
Der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die sprichwörtliche Formulierung „Wer nicht verrückt ist, ist nicht normal.“ Im vorliegenden Essay soll anhand dieser Redewendung eine Auseinandersetzung erfolgen mit der Politisierung des Verrückten durch das Sozialistische Patientenkollektiv und Ansätzen der Kritischen Theorie bei Adorno, dem Leiden des Subjekts mit einer konsequenten Negation zu begegnen. Die genannte Redensart scheint Anknüpfungspunkte zu bieten an Kritikpunkte der Antipsychiatrie-Bewegung, die ab etwa 1960 unter anderem die soziale Ausschließung und Stigmatisierung von Menschen mit einer psychischen Erkrankung problematisiert hat.1 Insbesondere das „Ausschließen durch Einschließen“2 in den sogenannten Verwahranstalten der Psychiatrie ist im Rahmen der damit verbundenen Kampagnen und Initiativen teils erfolgreich kritisiert worden. Dabei sollte nicht unbeachtet bleiben, dass sich unter dieser „Sammelbezeichnung“3) unterschiedliche Strömungen subsumieren lassen, die sich in ihren Forderungen und Kritikpunkten auf einem Spektrum zwischen einer konsequenten Reform der Psychiatrie und ihrer vollständigen Abschaffung bewegen. Dass insbesondere in den geschlossenen Abteilungen der Psychiatrie weiterhin Patient_innen herabwürdigend behandelt werden, wurde zuletzt anhand eines investigativen Dokumentarfilms mit Undercover-Reportage durch ein Team um Günther Wallraff dokumentiert und diskutiert4. Dessen skandalträchtige Aufmachung im Stil von Boulevardmedien erscheint dabei zwar überaus kritikwürdig – insbesondere der dominierende Gestus der moralischen Empörung, der nicht mit einer grundlegenden Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse verwechselt werden sollte. Doch zumindest gab diese Reportage den Anstoß, die darin aufgedeckten Missstände in der Psychiatrie im Klinikum Frankfurt-Höchst auch vonseiten der zuständigen Aufsichtsbehörden und der Kommunalpolitik überprüfen zu lassen.5
Speziell in Bezug auf die Depression, die im medialen Diskurs stellenweise als Volkskrankheit bezeichnet wird, scheint sich sukzessive eine Entstigmatisierung und gesellschaftliche Akzeptanz zu entwickeln, nicht zuletzt auch durch prominente Figuren wie den damaligen Torwart und Fußballprofi Robert Enke, der sich infolge seiner depressiven Erkrankung 2009 suizidiert hat.6 Allerdings bleibt zu befürchten, dass bei weniger prominenten Betroffenen das kollektive Mitgefühl deutlich geringer ausfallen dürfte, ohne dass an dieser Stelle der tragische Suizid von Enke bagatellisiert werden soll.7 Wagner wiederum8 weist mit Bezug auf die Ergebnisse einer quantitativen Studie darauf hin, dass sich die jeweilige psychiatrische Diagnose auch klassen- oder milieuspezifisch unterscheide, sodass bei Personen aus prekarisierten Milieus die Diagnose der Depression überwiege, wohingegen bei sozioökonomisch besser gestellten Personen die Wahrscheinlichkeit einer Burnout-Diagnose steige, die gemeinhin mit dem Scheitern am Leistungsdruck in verantwortungsvollen, beruflichen Positionen assoziiert werde.
Insbesondere in Bezug auf die Depression zeigt sich auch im sozialwissenschaftlichen Diskurs eine Tendenz dahingehend, die Entwicklung einer depressiven Symptomatik nicht allein auf eine individuelle Prädisposition, sondern auch auf gesellschaftliche Faktoren zurückzuführen, wie dies beispielsweise Ehrenberg9 darlegt. Dem Autor zufolge lässt sich eine depressive Störung als Erschöpfungsreaktion auf das Scheitern am neoliberalen Imperativ der Selbstverwirklichung verstehen. Dies wirft die Frage auf, ob andere Störungsbilder wie Psychosen oder Schizophrenie, bei denen den Betroffenen ein zumindest vorübergehender Realitätsverlust unterstellt wird, sich weniger gut durch sozialwissenschaftliche Erklärungsversuche normalisieren lassen und damit weiterhin als verrückt und bedrohlich gelten könnten. Auch von Kardorff10 weist darauf hin, dass Personen mit einer psychischen Erkrankung trotz Psychiatriereform und medialen Aufklärungskampagnen oft weiterhin von sozialer Ausschließung betroffen sind und das „verrückte“ Verhalten als von der sozialen Norm abweichend etikettiert wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich in Frage stellen, inwiefern das Verrücktsein tatsächlich als normal betrachtet werden kann und ob bei solch einer Sichtweise nicht das individuelle Leiden der betroffenen Personen ausgeblendet bleibt. Insbesondere soll im Folgenden die kritisch gemeinte Intention, das individuelle Leiden der Psyche als normale Reaktion auf eine „verrückte“ Gesellschaft zu deuten wie auch dessen politische Instrumentalisierung einer Metakritik im Sinne der Kritischen Theorie bei Adorno unterzogen werden.
Zunächst erscheint es aus einer etikettierungstheoretischen Perspektive im Anschluss an Goffman11 oder Cremer-Schäfer & Lutz12 verdienstvoll, die gesellschaftlich bedingte Stigmatisierung von Menschen mit einer psychischen Erkrankung und deren Etikettierung als abweichend zu hinterfragen, worauf auch Cremer-Schäfer13 hinweist.
Auch von Kardorff verweist auf „den Doppelcharakter psychischer Störungen als Krankheit und als soziale Abweichung“.14 Allerdings scheint sich insbesondere bei bestimmten psychischen Erkrankungen das individuelle Leid nicht auf die subjektiv erlebten Folgen der gesellschaftlichen Stigmatisierung zu beschränken, sodass eine Aufhebung dieser gesellschaftlichen Faktoren nicht zwangsläufig auch das Leiden der Psyche beenden würde. Zwar könnte das individuelle Leiden der Psyche durch das soziale Umfeld der betroffenen Person als nicht der Realität entsprechend gewertet werden, insbesondere dann, wenn psychotische Symptome auftreten, die als wahnhaft deklariert werden, aber in Bezug auf ihre Genese ebenfalls nur schwer von gesellschaftlichen Faktoren loszulösen sind. Jedoch werden diese leidvollen Symptome aus der subjektiven Perspektive der Betroffenen als existent, überaus präsent und somit als real erlebt und beschrieben. Eine Unterscheidung zwischen Realität und Normalität ist hier von Bedeutung. (Ausgeblendet bleibt hierbei allerdings, dass auch die vorherrschende, gesellschaftliche Realität von wahnhaften Vorstellungen geprägt sein kann, wie dies Pohl15 am Beispiel des Antisemitismus rekonstruiert.)
Soll das individuelle Leiden der Psyche durch psychologische Testdiagnostik möglichst objektiv erfasst werden, muss diese positivistische Objektivierung zwangsläufig auf die subjektive Erfahrung der Betroffenen zurückgreifen. Somit bleibt eine Diagnostik, die die ‚Störung‘ als objektive und behandelbare Realität erfassen soll, notwendigerweise auf das Element des Verrückten angewiesen, also auf ein mitunter irreales, wahnhaftes Moment. Wenn aber das subjektive Erleben dennoch normalisiert und als konsequente Reaktion auf sozialpathologische Zustände interpretiert werden soll, gerät eine solche Sichtweise möglicherweise in Widerspruch zur Erfahrung der betroffenen Person, die diese Zustände zwar als real, aber nicht als normal, sondern als höchst bedrohlich und leidvoll erlebt.
Vor diesem Hintergrund erscheint es dann nachvollziehbar, wie solch eine widersprüchliche und höchst irritierende Erfahrung anschlussfähig werden kann an Versuche, dieses Erleben zu politisieren. Im Folgenden soll nun dargestellt werden, wie das Sozialistische Patientenkollektiv dieses irreale Moment des Verrückten für eine fundamentale Kritik der vorfindbaren, realen Verhältnisse in Gebrauch nimmt.
Die Politisierung des Verrückten
In bestimmten Strömungen der Antipsychiatrie-Bewegung ab 1960 lässt sich zum einen eine dezidiert linksgerichtete Kritik an der Psychiatrie als Form der totalen Institution,16 aber auch an der Diagnostik und Interpretation von psychischen Störungen finden, wie dies beispielsweise Bopp17 umfassend rekonstruiert hat. Als Beispiel für eine besondere Zuspitzung der dabei vorgebrachten Kritik soll hier das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) herausgegriffen werden.
Diese Gruppierung ist 1970 unter anderem unter Beteiligung von Wolfgang Huber entstanden, einem damaligen Assistenzart an der Universitätsklinik Heidelberg. Allerdings weist Bopp18 darauf hin, dass die Formierung des Kollektivs maßgeblich durch damalige Patient_innen der Psychiatrie und weniger durch Professionelle angestoßen wurde, im Unterschied zu anderen, vergleichbaren Initiativen aus dem Umfeld der Antipsychiatrie-Bewegung. Zudem sei das SPK „nicht aus der Erfahrung der regressiven Anstaltspsychiatrie hervorgegangen“,19 sondern in dem damals relativ progressiven Umfeld der Psychiatrischen Universitätsklinik entstanden, die fortschrittliche Ansätze wie die Fokussierung auf psychoanalytische oder gruppentherapeutische Ansätze in diesem Zeitraum bereits erprobt hat .
In den philosophischen Lesekreisen des SPKs habe dabei unter anderem eine Auseinandersetzung mit den Schriften von Hegel, Marx und Wilhelm Reich stattgefunden, worauf Pross20 hinweist. Bopp wiederum stellt heraus, dass sich das SPK bei seinen theoretischen Grundlagen explizit auf eine Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse bezog.21 Gleichzeitig habe sich das SPK in seinen Schriften kaum explizit mit anderen Ansätzen befasst, wie beispielsweise der programmatischen Schrift „Psychiatrie und Antipsychiatrie“ von Cooper,22 dessen deutsche Übersetzung allerdings auch erst nach Auflösung des SPKs erschien. Zu den philosophischen Gesprächsrunden habe Huber ausgewählte Patient_innen in sein Privathaus eingeladen. Aus diesem Kreis habe sich später ein „konspirativer Zirkel“23 herausgebildet, der im weiteren Verlauf auch an politischen Aktionen beteiligt gewesen sei, ein Teil dieses Zirkels habe sich später der RAF angeschlossen. Eine umfangreiche Rekonstruktion dieser historischen Ereignisse bietet beispielsweise die Monographie von Christian Pross,24 auch wenn seine Perspektive aufgrund der eigenen Involviertheit als Zeitzeuge subjektiv und auch von persönlichen Vorbehalten gefärbt sein mag.
Im Fokus der Betrachtung soll hier nun der politisierte, radikal zugespitzte Blick des SPK auf das Phänomen der psychischen Krankheit stehen.25 Insbesondere deren zentrale Parole „Aus der Krankheit eine Waffe machen“ erscheint im Kontext des vorliegenden Beitrags interessant. Pross weist in einem Artikel für eine medizinische Fachzeitschrift über den Dokumentarfilm „SPK-Komplex“ von Gerd Kroske darauf hin, dass das SPK „Vorstellungen von den psychisch Kranken als revolutionäres Subjekt“26 vertreten habe und bezeichnet diese im Artikel als „absurd“.
Diese Einschätzung wirft die Frage auf, inwiefern solch eine Vorstellung abwegig erscheint und was genau daran kritikwürdig sein könnte. Zunächst scheint die Parole, die Krankheit in eine Waffe gegen das kapitalistische Gesellschaftssystem zu verwandeln, als Umkehrung der Vorstellung, das verrückt werden als folgerichtige, normale Reaktion auf eine pathogene Gesellschaft zu deuten. Die (psychische) Krankheit als Waffe zu verstehen, würde dann bedeuten, die Störung selbst als Mittel gegen ihre eigene Ursache zu richten. Damit liegt zwar auch diesem Ansatz die Vorstellung zugrunde, dass das Leiden der Psyche auf gesellschaftliche Faktoren zurückzuführen sei. Während aber bei der Redewendung „Wer nicht verrückt ist, ist nicht normal“ und bei anderen Ansätzen der Antipsychiatrie-Bewegung das betreffende Subjekt von Stigmatisierung und Schuldzuschreibungen durch Entpathologisierung und Normalisierung entlastet werden soll, zielt die Parole des SPK auf ein revolutionäres Moment ab und nimmt dabei das Subjekt in die Pflicht, die krankmachenden Verhältnisse umzustürzen.
Eine bis heute bestehende, selbsternannte Nachfolgeorganisation des Sozialistischen Patientenkollektivs hat die Inhalte der zentralen „Agitationsschrift“ in der 6. Auflage von 1995 online zur Verfügung gestellt. Die nun folgenden Zitate entstammen der genannten Online-Version.
Insbesondere die Thesen über die „Identität von Krankheit und Kapital“ erscheinen im Kontext des vorliegenden Beitrags bemerkenswert.27 In diesen Thesen entwickelt das SPK einen zentralen Argumentationspunkt:
„Der kapitalistische Produktionsprozeß ist gleichermaßen ein Destruktionsprozeß von Leben. Es wird ständig Leben zerstört und Kapital produziert“
Im weiteren Argumentationsgang sieht das SPK dann Krankheit nicht nur als Folge der kapitalistischen Ausbeutung von Arbeitskraft. Sondern in der Krankheit selbst sei auch potentiell eine Widerstandskraft angelegt, indem sich die erkrankte Person aufgrund der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit der weiteren Verwertung verweigere. Das „Gesundheitswesen“, damit auch die institutionalisierte Psychiatrie wiederum trage zur Wiederherstellung von Arbeitsfähigkeit bei, wodurch das revolutionäre Moment der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit gewissermaßen entschärft werde:
„Das progressive Moment der Krankheit, der Protest, wird abgetötet; das reaktionäre Moment, die Hemmung, wird im Heilungsprozess (= Reparatur von Arbeitskraft) verstärkt reproduziert. Dem Kranken wird sein Bedürfnis nach Veränderung genommen“
Dabei scheint es bei dieser Argumentation auf den ersten Blick gewisse Berührungspunkte mit aktuellen, sozialwissenschaftlichen Thesen zur Bedingtheit von psychischer Erkrankung und dem Arbeitsleben in der kapitalistischen Vergesellschaftung zu geben, wie sie beispielsweise bei Ehrenberg28 oder als Kritik der Therapeutisierung von gesellschaftlich bedingten „Störungen“29 diskutiert werden. Auf den zweiten Blick stellt sich bei der Positionierung des Sozialistischen Patientenkollektivs ein gewisses Unbehagen ein. Bei dem hier skizzierten Verständnis von der „Krankheit als Waffe“ (a. a. O.) und den „psychisch Kranken als revolutionäres Subjekt“ (a. a. O.) scheint sich aus Perspektive der Kritischen Theorie eine falsche Unmittelbarkeit einzustellen, die Adorno und Horkheimer in der Kritischen Theorie als Kurzschluss zwischen Theorie und Praxis kritisieren.30 Das Leiden der Subjekte an den kapitalistischen Verhältnissen soll dem SPK nach nicht normalisiert, sondern politisiert, also radikalisiert und unmittelbar in eine revolutionäre Aktion überführt werden. Eine Heilbehandlung durch die professionelle Psychiatrie wird in dieser Konsequenz dann abgelehnt, um „das progressive Moment der Krankheit“ (a. a. O.) nicht zu neutralisieren. Nicht nur der Umstand, dass offenbar einige Mitglieder des SPK durch ihre Hinwendung zur RAF die Krankheit im allzu wörtlichen Sinne zur Waffe haben werden lassen, erscheint hierbei problematisch.31 Auch die Implikation, die Krankheit und das Leiden aufrechtzuerhalten und der Heilung zu entziehen, bis die dafür ursächlichen Verhältnisse revolutionär überwunden sind, zielt also weniger auf die Abschaffung des Leidens, sondern auf die Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ab, die als unmittelbare Ursache vorausgesetzt wird. Damit wird das individuelle Leid durch die Ingebrauchnahme für politische Zwecke indirekt affirmiert und im Sinne einer Revolutionsromantik idealistisch verklärt. Insbesondere der vom SPK bewusst gewählte Begriff der Agitation, bei dem auch die therapeutischen Sitzungen in „Einzel- und Gruppenagitation“ umbenannt worden sind, mag dem damaligen Zeitgeist entsprechen, erscheint aber in der Retrospektive irritierend.32 Hier scheint auch eine unmittelbare Politisierung der Psychotherapie im Sinne einer politischen Beeinflussung und Instrumentalisierung der betroffenen Personen angelegt zu sein, wie sie beispielsweise auch Knebel33 als falsch verstandene Form einer kritisch gemeinten Praxis kritisiert.
Das Leiden am Verrücktsein
In der Kritischen Theorie bei Adorno nimmt das Leiden der Individuen an den gesellschaftlichen Verhältnissen einen zentralen Platz ein, wie dies beispielsweise Angehrn34 in Bezug auf die Negative Dialektik ausführt. Von zentraler Bedeutung sei dabei allerdings, dass die (psychische) Beschädigung des Subjekts zum Gegenstand der Negation werden soll und den kategorischen Imperativ, abgeschafft zu werden, bereits in sich berge. Dabei beziehen sich die Überlegungen von Adorno zum individuellen Leiden Angehrn zufolge allerdings mehr auf den körperlichen Schmerz, lassen sich jedoch meines Erachtens und in gewisser Hinsicht auch auf das Leiden der Psyche übertragen. In diesem Sinne könnte auch der psychische Schmerz ein irreduzibles Moment beinhalten, da er zwar durch gesellschaftliche Bedingungen mit verursacht wird, sich aber nicht vollständig auf diese zurückführen, sich also weder durch die Beseitigung dieser Ursachen vollständig aufheben noch durch die Dekonstruktion des Begriffs auflösen lässt.
Hingegen zeigt sich bei der Redewendung „Wer nicht verrückt ist, ist nicht normal“ im Umkehrschluss, dass die verrückte Person normal sei, das Verrücktsein also normalisiert wird und vice versa die Normalität selbst als verrückt gilt. Unter der Prämisse, dass das Verrücktsein mit einem individuellen Leiden daran verbunden ist, lässt sich schlussfolgern, dass dieses Leid damit ebenfalls normalisiert, also in einem gewissen Sinne durch die fehlende Negation affirmiert, also akzeptiert werden soll.
Auch im Sozialistischen Patientenkollektiv und der Forderung, die Krankheit als Waffe gegen das System zu richten, zeigt sich indirekt eine Affirmation: Zwar wird das Leiden der Psyche an sich problematisiert, aber vor allem dessen Behandlung und Heilung als konterrevolutionär kritisiert, da die Krankheit durch ihre Heilung seines „progressiven Moments“ (a. a. O.) beraubt werde. Hierbei soll also das Verrücktsein an sich zugespitzt und radikalisiert werden. Seine Aufhebung hingegen scheint auf die Zeit nach der Abschaffung der pathogenen Verhältnisse verschoben zu werden.
Die Befassung mit den Kritikpunkten der Antipsychiatrie und dem Sozialistischen Patientenkollektiv im Verhältnis zur Kritischen Theorie könnte aufgrund der historischen Verortung allerdings als antiquiert oder überkommen betrachtet und damit als in der Diskussion als erledigt abgelegt werden. Doch scheint die Debatte um die gesellschaftliche Konstruktion und Bedingtheit des Verrückten insbesondere im intersektional und poststrukturalistisch orientierten Wissenschaftsbetrieb unter der Kategorie der „Mad Studies“ wieder an Bedeutung zu gewinnen. Beispielsweise kommt dies in einem Sammelband zum Ausdruck, der eine Tagung aus dem Jahr 2018 über die Ausdifferenzierung der Disability Studies dokumentiert.35
Um der darin angelegten, diskursanalytischen Verschiebung etwas entgegenzusetzen, die das Verrücktsein überwiegend als sozial konstruiert betrachtet, könnte eine Perspektive gestärkt werden, die sich mehr auf die Verbindung von Kritischer Theorie und Psychoanalyse bezieht, worauf auch Angehrn36 hinweist. Eine solche Positionierung könnte daran festhalten, „Leiden beredt werden zu lassen [als] Bedingung aller Wahrheit“,37 indem der subjektive Sinn im Verrücktsein und seine wechselseitige Bezogenheit auf die gesellschaftlichen Bedingungen Anerkennung findet, ohne die „Störung“ und das damit verbundene Leiden als normale Reaktion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu deuten – und sich im schlechtesten Fall damit abzufinden. Dieses „beredt werden lassen“ könnte bedeuten, dem Leiden am Verrücktsein, das nicht vollständig in der gesellschaftlichen Stigmatisierung aufzugehen scheint, zum Ausdruck zu verhelfen. Bemerkenswerterweise verweist Freud selbst in einer viel zitierten Anekdote darauf hin, dass sich die psychoanalytische Behandlung darauf beschränken müsse, das subjektive Leiden an der individuellen Störung „in gemeines Unglück zu verwandeln“.38 Ein derartiger Heilungserfolg wäre in diesem Sinne die Voraussetzung, um einen weniger leidvollen Umgang mit den Zumutungen einer widerspruchsvollen Gesellschaft zu finden, in der nach Adorno „alle Menschen […] a priori beschädigt“39 sind. Ein solches Krankheitsverständnis stellt das Postulat des SPK, die Krankheit als Waffe gegen das pathogene System zu verwenden, gewissermaßen auf den Kopf: Während das SPK die Heilung aufschiebt, um das progressive Element der Störung aufrechtzuerhalten, wäre nach Freud eben das Lindern oder Aufheben der individuellen Symptome eine Voraussetzung, um es in der bestehenden Gesellschaft auszuhalten, die alle gleichermaßen zu Beschädigten werden lässt. Diese kollektive Erfahrung wiederum bringt die Erkenntnis mit sich, dass sich das Leiden der Subjekte in den bestehenden, gesellschaftlichen Verhältnissen nur bedingt aufheben lässt, solange diese Verhältnisse fortbestehen.
Bemerkenswerterweise sieht Adorno das Bedürfnis, dieses Leiden sowohl in seinem gesellschaftlichen Gehalt als auch in der subjektiven Erfahrung zur Sprache zu bringen, als „Bedingung aller Wahrheit“40 an. Dies wirft die Frage auf, welche Wahrheit damit gemeint sein könnte und ob ein solcher Wahrheitsanspruch im Sinne einer spätmodernen Erkenntniskritik als anmaßend verworfen werden müsste. In dem bereits erwähnten Beitrag von Boger41 findet ebenfalls eine intensive Auseinandersetzung mit den Begriffen der Normalität und Normalisierung statt. In Bezug auf die Normalität stellt Boger prägnant fest:
„Mal erscheint sie [die Normalität, M. B.] uns als dekonstruierbare diskursive Konstruktion, die sich leicht ver_rücken lässt, und dann wieder als bitterlich-reale Wand, von der sich nicht einmal ein Steinchen verschieben lässt.“.42
Bei dem Versuch, diese beiden Thesen in einem Gedankenspiel zusammenzuführen, könnte die Wahrheit, die Adorno meint, eben darin liegen, dass das Verhältnis zwischen dem Verrückten und der Normalität eben doch nur bis zu einem gewissen Grad dekonstruierbar erscheint: Zwar lässt sich die Konstruktion, dass das Verrückte als abweichend von der Normalität identifiziert wird, sowohl durch einen diskursanalytischen als auch durch einen etikettierungstheoretischen Ansatz kritisch reflektieren und hinterfragen. Doch auch bei den daraus resultierenden Bemühungen, das Verrücktsein zu entstigmatisieren, zeigt sich die Beharrungskraft der gesellschaftlichen Verhältnisse als Form der hegemonialen Normalität. Diese Realität in einem materialistischen Sinne könnte ebenso ein Moment der Wahrheit beinhalten wie das Eingeständnis, dass das Verrücktsein und verrückt werden einen irreduziblen, nicht dekonstruierbaren Kern beinhaltet: die individuelle Erfahrung, an der psychischen Reaktion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse schmerzhaft zu leiden.
Die verrückte Normalität
Doch (wie) lässt sich solch ein Zustand denken, in dem das Leid nicht mehr sein muss? Vermutlich müsste sich dieser deutlich von der bisherigen, leidvollen Normalität unterscheiden, die zum verrückt werden einzuladen scheint. Um das individuelle Leiden abzuschaffen, müssten die Verhältnisse also selbst ver-rückt werden, auch wenn dieses Wortspiel mit der doppelten Bedeutung des „Ver-rückten“ etwas überstrapaziert erscheint, gleichwohl es beispielsweise auch bei von Kardorff43 und Boger44 Verwendung findet. So verweist Braunstein45 auf ein interessantes Detail in Bezug auf den Begriff der Utopie bei Adorno mit Rückgriff auf messianische Vorstellungen im Judentum. Braunstein zitiert hierzu die legendenhafte Erzählung eines Rabbis, nach der sich die Erlösung von den jetzigen Verhältnissen nicht durch eine Revolution oder katastrophische Apokalypse einstelle, sondern sich die erlösten Verhältnisse nur durch kleine, aber bedeutsame Verschiebungen von den alten unterscheiden würden: „alle müssen von ihrem Platz verrückt werden“.46 Dies unterscheidet sich zwar nur minimal, aber bedeutsam von der Vorstellung, alle müssten an ihrem Platz verrückt werden. Dieser feine Unterschied wäre allerdings einer ums Ganze. Wenn Leiden an den individuellen Zumutungen einer kapitalistischen Gesellschaft anerkannt, aber nicht normalisiert, also akzeptiert wird, ist zwar seine universelle Beendigung weiterhin an eine grundlegende Veränderung oder Verschiebung der gesellschaftlichen Verhältnisse gekoppelt. Weil diese Verschiebung in Richtung Utopie bereits sukzessive in den aktuellen Verhältnissen angelegt ist, also im Diesseits beginnen kann, lässt sich das Leiden der Subjekte auch schon in diesen Verhältnissen nach Möglichkeit reduzieren, ohne dass die betreffenden Personen erst auf die Erlösung durch einen revolutionären oder apokalyptischen Umsturz vertröstet werden müssten. Und ein solches Verrücken der Verhältnisse lässt sich wohl auch nicht auf eine sprachlich-diskursive Verschiebung begrenzen, bei der nur die verwendeten Begriffe verändert werden müssten. Diese neue Normalität, wie sie dem Begriff nach auch als Vorstellung einer Post-Corona-Gesellschaft imaginiert wird, wäre dann vielleicht nur geringfügig umgestellt, aber bestenfalls so eingerichtet, dass das Verrücktwerden an den gesellschaftlichen Verhältnissen kein Normalzustand mehr bleibt.
Fußnoten
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Jörg Bopp: Antipsychiatrie: Theorien, Therapien, Politik. Frankfurt am Main: Syndikat, 1980; Christof Goddemeier: „Antipsychiatrie“-Bewegung. Eine Institution steht am Pranger. In Deutsches Ärzteblatt PP 2014; 12(11), S. 502-504. ↩
-
Helga Cremer-Schäfer: Soziale Ausschließung als Voraussetzung und Folge Sozialer Arbeit. In: R. Anhorn, R. Keim, K. Rathgeb, E. Schimpf, S. Spindler & J. Stehr (Hrsg.), Politik der Verhältnisse - Politik des Verhaltens. Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit 29. Wiesbaden: Springer VS, 2018, S. 49. ↩
-
Goddemeier, 2014, S. 502. ↩
-
robert-enke-stiftung.de, zuletzt abgerufen am 29.01.2021. ↩
-
deutschlandfunk.de, zuletzt abgerufen am 18.02.2021. ↩
-
Greta Wagner: Arbeit, Burnout und der buddhistische Geist des Kapitalismus. In: Ethik und Gesellschaft 2/2015: Depression und subjektivierte Arbeit. Online abgerufen unter ethik-und-gesellschaft.de, zuletzt abgerufen am 25.01.2021. ↩
-
Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt am Main: Campus, 2015. ↩
-
Ernst von Kardorff: Kein Ende der Ausgrenzung Ver-rückter in Sicht. In: R. Anhorn & F. Bettinger (Hrsg.), Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit: Positionsbestimmungen einer Kritischen Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Wiesbaden: VS, 2008, S. 253-271. ↩
-
Erving Goffman: Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Berlin: Suhrkamp, 2010. ↩
-
Helga Cremer-Schäfer, Tilman Lutz: Die Macht von Bezeichnungen. Zur Aktualität von Etikettierungstheorien. In: Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2019, S. 29–44. ↩
-
Helga Cremer-Schäfer: Soziale Ausschließung und Kritische Theorie. In: R. Anhorn & J. Stehr (Hrsg.): Handbuch Soziale Ausschließung und Soziale Arbeit. Wiesbaden: Springer VS, 2021 (im Ersch.). ↩
-
Von Kardorff, 2015, S. 255. ↩
-
Rolf Pohl: Der antisemitische Wahn. Aktuelle Ansätze zur Psychoanalyse einer sozialen Pathologie. In: Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis. Wiesbaden: VS, 2010, S. 41-68. ↩
-
Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973. ↩
-
Jörg Bopp: Antipsychiatrie: Theorien, Therapien, Politik. Frankfurt am Main: Syndikat, 1980. ↩
-
Ebd. ↩
-
Ebd., S.111. ↩
-
Christian Pross: Vertane Chance zur Aufklärung eines dramatischen Kapitels der Psychiatriegeschichte. Der Dokumentarfilm „SPK-Komplex“. In: Nervenheilkunde 11/2018. Stuttgart: Georg Thieme, S. 1-6. ↩
-
Bopp, 1980. ↩
-
David Cooper: Psychiatrie und Antipsychiatrie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971. ↩
-
Pross, 2018, S. 3. ↩
-
Christian Pross: "Wir wollten ins Verderben rennen." Die Geschichte des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg. Köln: Psychiatrie-Verlag, 2017. ↩
-
Bopp, 1980. ↩
-
Pross, 2018, S. 826 ↩
-
Ehrenberg, 2015. ↩
-
Roland Anhorn, Marcus Balzereit (Hrsg.): Handbuch Therapeutisierung und Soziale Arbeit. Wiesbaden: Springer VS, 2016. ↩
-
Theodor W. Adorno: Resignation. In: Gesammelte Schriften Band 10: Kulturkritik und Gesellschaft II. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003 [1969], S. 794–799; Theodor W. Adorno, Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2016 [1969]. ↩
-
Pross 2017; 2018. ↩
-
L. Knebel. Muss Psychotherapie politisch werden? Nein, aber…. In: Psychologie & Gesellschaftskritik, 42. Jahrgang, Nr. 166/167, Heft 2/3-2018, S. 25-47. ↩
-
Emil Angehrn: Leiden beredt werden lassen. Zwischen Kritischer Theorie und Psychoanalyse. In: C. Kirchhoff & F. Schmieder (Hrsg.), Freud und Adorno. Zur Urgeschichte der Moderne. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2014, S. 145-152. ↩
-
Mai-Anh Boger: Mad Studies und/in/als Disability Studies. Eine Verhältnisbestimmung. In: D. Brehme, P. Fuchs, S. Köbsell & C. Wesselmann (Hrsg.): Disability Studies im deutschsprachigen Raum. Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung. Weinheim & Basel: Beltz Juventa, 2020, S. 41-55. ↩
-
Angehrn, 2014. ↩
-
Adorno, 1975, S. 29, zit. nach Angehrn, 2014, S. 148. ↩
-
Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Erster Band. London: Imago, 1952, S. 312. ↩
-
Adorno, 1972, S. 63. ↩
-
Ebd. ↩
-
Boger, 2020. ↩
-
Ebd., S. 50. ↩
-
Von Kardorff, 2015. ↩
-
Boger, 2020. ↩
-
Dirk Braunstein: Adornos Kritik der politischen Ökonomie. Bielefeld: Transcript, 2015. ↩
-
Von Bratzlaw 1985, zit. nach Braunstein, 2015, S. 377. ↩