Die historischen Ursprünge der Technikkritik
Technikoptimismus
Es ist nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, dass das Denken im 19. Jahrhundert, besonders in der zweiten Hälfte, größtenteils durch Fortschritts-, Wissenschafts- und Technikoptimismus geprägt war. Die naturwissenschaftliche Forschung hat in jener Zeit erstaunliche Fortschritte vollbracht und neue Erkenntnisse schnell in technische Anwendungen übersetzt. Die um 1850 erst wirklich etablierte Thermodynamik hat zur Verbesserung der Dampfmaschinen beigetragen. Die Entdeckung der elektromagnetischen Induktion 1831 durch Faraday führte zur Entwicklung der Elektrodynamik als neuem Fachgebiet, das sogleich in der Elektrotechnik seine Anwendung fand. Die Erkenntnisse der Agrarchemie führten durch den Einsatz von Kunstdüngern zur Ertragssteigerung in der Landwirtschaft. Die Bakteriologie, die durch Louis Pasteur und Robert Koch begründet wurde, führte zu einem enormen Fortschritt in der Medizin.
Die Liste der Entdeckungen ließe sich noch weiter fortsetzen. Sie illustriert lediglich, dass der Fortschritt in Wissenschaft und Technik wirklich zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse vieler Menschen beigetragen hat. Die Entwicklung war so beeindruckend, dass die Konservativen, die 1815 noch reaktionär und antimodernistisch eingestellt waren, sich in der zweiten Jahrhunderthälfte mit der Moderne abgefunden hatten. Jedoch hatten die technischen Neuerungen auch negative Auswirkungen, die sich in der Industrialisierung, Urbanisierung und in der Verelendung vieler Arbeiter_Innen und Arbeiter äußerte. Diese Zustände wurden durch die Vertreter_Innen des Sozialismus kritisiert und die soziale Frage wurde in den Mittelpunkt ihrer Politik gestellt. Jedoch sahen sie nicht in Technik und Wissenschaft die Ursache für dieses Leid. Ganz im Gegenteil hatten sie großes Vertrauen darin, dass der technische und wissenschaftliche Fortschritt auch die soziale Frage lösen würde. Karl Marx hinterfragte nicht die Entwicklung der Produktivkräfte, sondern bemängelte, dass sie nicht mit den Produktionsverhältnissen übereinstimmten und forderte deren Umwälzung. In der deutschen Sozialdemokratie war der Spruch „Der Fortschritt ist auf unserer Seite!“ verbreitet. Strittig war nicht, ob man für oder gegen die Errungenschaften der Wissenschaft und Technik ist, sondern ob dieser Fortschritt bürgerlich oder sozialistisch sei. Charakteristisch für diesen Zukunftsoptimismus war ebenfalls, dass sich die Arbeiter_Innen-Bewegung den „wissenschaftlichen Sozialismus“ auf die Fahnen schrieb.
Beeinflusst durch diesen Optimismus veröffentlichte Ernst Kapp 1877 das erste Buch der Technikphilosophie. Kapp war ein Liberaler und emigrierte aufgrund des Scheiterns der Revolution 1848 nach Texas. Dort versuchte er mit anderen deutschen Emigranten unbesiedeltes Land zu bewirtschaften und in der neuen Welt eine Zivilisation aufzubauen. Bei diesem Vorhaben begegnete Kapp ganz konkret der zivilisatorischen Kraft technischer Geräte. Weil er aber als überzeugter Liberaler die amerikanische Sklavenhalter-Gesellschaft kritisierte, war er bald auch dort nicht mehr willkommen. Kapp kehrte nach Deutschland zurück und schrieb sein Buch „Grundlinien der Philosophie der Technik“.[^1] In diesem Buch entwickelte er die Idee der Organprojektion, die zu einem zentralen Argument der späteren Technikphilosophien wurde. Technische Geräte sind demnach Erweiterungen der menschlichen Organe. Ein Hammer verbessert die Wirkung der Faust und das Fernrohr ermöglicht weiteres Sehen. Die Technik ist nach Kapp ein zentrales Element zivilisatorischen Fortschritts.
Reformstimmung
Langsam aber erhielt dieser allgemeine Optimismus, der damals alle gesellschaftlichen Schichten durchdrang, erste Risse. Friedrich Nietzsche hatte in seinen Büchern in den 1870er und 80er Jahren die Werte der bürgerlichen Gesellschaft radikal hinterfragt, blieb aber zunächst unbekannt. Erst in den 1890er Jahren, als Nietzsche in geistige Umnachtung verfiel, wurde er entdeckt, gelesen und schließlich mythisch verklärt. Vor allem in der Jugend- und Reformbewegung stieß das Werk Nietzsches auf Resonanz. Der Zeitgeist änderte sich in den 1890ern. Dieser Wandel äußerte sich nicht zuletzt in der Mode. In den Jahrzehnten davor waren ausgefallene Bärte in Mode und junge Männer versuchten, durch ihre Bärte älter zu wirken. Ab 1890 entdeckte die Jugend ihre Jugendlichkeit und feierte sie, statt den Alten nachzueifern.[^2] Sie begehrte gegen die ältere Generation auf und brach mit den damaligen Konventionen. Sie trachtete nach dem Lebendigen und Natürlichen und die Wandervögel entflohen dem Alltag und gingen in die Natur. Zeitgleich verbreitete sich aus Frankreich kommend der Jugendstil. Außerdem widersprach die Reformpädagogik dem Schulsystem, in dem die Schule mehr Kaserne als Hort der Bildung war. Es sollte stattdessen um die Entfaltung der Persönlichkeit, Natürlichkeit und Kreativität gehen. Von vielen wurden die Städte nunmehr als Moloch wahrgenommen. Dies hatte zur Folge, dass Landkommunen gegründet wurden oder man forderte, die Städte durch Gartensiedlungen zu reformieren. Überhaupt war Reform das Schlagwort. Hinzu kam, dass 1890 das Verbot der SPD nicht mehr verlängert wurde. Die anfänglichen Hoffnungen auf eine nun mögliche sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft verflüchtigten sich jedoch bald, als viele merkten, dass die SPD sich als bürokratische und hierarchische Massenpartei verfestigte. Nicht nur institutionell, sondern auch ideell verbreitete sich in der sozialistischen Bewegung eine Abmilderung ihres einstmaligen Fortschritts- und Technikoptimismus.
Durch diesen Wandel des Zeitgeistes trafen Nietzsches Schriften nun auf eine begeisterte Leserschaft. Nietzsche beeinflusste die sogenannte Lebensphilosophie von Dilthey, Simmel und Bergson. Die Lebensphilosophen kritisierten an der alten Schulphilosophie, dass durch sie die Intuition und der Strom des Lebens in abstrakte Verstandeskategorien gepresst würde. Diese Skepsis gegenüber einer scheinbar lebensfeindlichen Art des Denkens wurde häufig durch eine Kritik an Zivilisation und Technik ergänzt. Lebensphilosophie und Lebensreformbewegung inspirierten sich wechselseitig. Der Höhepunkt der Reformbewegung war der Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner im Jahr 1913, bei dem die vielen Gruppen und Bünde der Jugendbewegung zusammentrafen. In den Reden, die dort gehalten wurden, kam eine zivilisationskritische Stimmung zum Ausdruck. Der Philosoph Ludwig Klages brachte in seiner Rede mit dem Titel „Mensch und Erde“ viele Motive der Zivilisations- und Technikkritik auf den Punkt. Klages prangerte die fortschreitende Ausrottung vieler Tierarten und die Abholzung des Regenwaldes an. Er beklagte die Menschenmassen in den Großstädten, das Getöse des Straßenlärms und taghelle Nächte. Die meisten Menschen lebten nicht, sondern seien Sklaven ihres Berufs und des Geldes. Klages spricht in seiner Rede Probleme der Naturzerstörung und der Entfremdung des modernen Menschen an. Die Ursache für diese zerstörerischen Folgen des Fortschritts liege im „rechenverständigen Aneignungswillen“ des Menschen. Das Versprechen von Fortschritt und Technik sei unglaubwürdig geworden.
« […] Von vielen wurden die Städte nunmehr als Moloch wahrgenommen. Dies hatte zur Folge, dass Landkommunen gegründet wurden oder man forderte, die Städte durch Gartensiedlungen zu reformieren. »
Genauso wie Klages ist auch Oswald Spengler durch Nietzsche und die Lebensphilosophie beeinflusst. In seinem monumentalen Werk „Der Untergang des Abendlandes“, dessen zwei Bände 1918 bzw. 1922 erschienen, entwickelt er die These, dass seine Zeitepoche sich im Übergang von der Kultur zur Zivilisation befände. Jede Menschheitsepoche würde die gleichen Entwicklungsstadien durchmachen. In der Antike wäre die Phase der Kultur durch die Staatsform der Polis gekennzeichnet. Die Antike sei in die Epoche der Zivilisation eingetreten, als sich die Polis auflöste und in die formlose Masse des römischen Imperiums erweiterte. Die Zivilisation war die letzte Phase bevor die Welt der Antike unterging. Das christliche Abendland stand nach Spengler ebenfalls vor seinem Untergang, da sich überall Anzeichen der Zivilisation ausfindig machen ließen. Die europäische Gesellschaft um 1900 sei räumlich nicht mehr durch Landschaft, sondern durch Metropolen geprägt. Die Kultur sei nicht mehr durch Ehrfurcht vor Tradition und Religion, sondern durch Tatsachensinn und Wissenschaft bestimmt. Letzter Ausdruck der Zivilisation sei die Herrschaft der Technik. Natürlich gab es in der Antike bereits Technik.[^3] Diese sei aber als Instrument aufgefasst worden und hätte jeweils einem konkreten Zweck gedient. Der Pflug war für den Ackerbau bestimmt und der Meißel für den Künstler. Die Zivilisation des Abendlandes aber sei von einer besonderen Form der Technik, von der faustischen Technik durchdrungen. Diese richte sich auf das Ganze. Die faustische Technik wolle nicht nur den gerade zu bearbeitenden Gegenstand, sondern die ganze Natur beherrschen. Sie selbst treibe immer stärker die Ausdehnung ihres Herrschaftsbereichs voran. Sie sei ihrem Wesen nach dynamisch. Die technischen Erfindungen ermöglichten weitere technische Erfindungen und die technische Entwicklung beschleunige sich zusehends. Der faustische Mensch sei dieser Entwicklung ausgeliefert und mache sich zum Sklaven seiner Schöpfung. Es gebe keinen Stillstand und keinen Schritt zurück.
Das Buch Spenglers verkaufte sich in den 1920er sehr gut und so prägten seine Thesen und seine Technikkritik die politische Öffentlichkeit. Spengler selbst verstand sich politisch als rechts, lehnte die Weimarer Republik ab und forderte eine Diktatur bzw. einen Cäsarismus. Auch Klages positionierte sich in den 20ern rechts und vertrat antisemitische Positionen. In dieser Zeit war Technikkritik besonders bei der radikalen Rechten sehr verbreitet. Die Intellektuellen, die in der Weimarer Republik publizistisch tätig waren und rechte politische Positionen verbreiteten, werden häufig unter dem Schlagwort „Konservative Revolution“ zusammengefasst. Man muss aber aufpassen: Dieses Schlagwort ist nach dem Zweiten Weltkrieg von Armin Mohler geprägt worden und suggeriert eine Einheit, die nicht besteht. Auch sollte der Terminus die darunter gefassten Intellektuellen nicht verharmlosen. Denn diese hatten teilweise Kontakte zu den Nationalsozialisten. Manche, wie Ernst Jünger, kritisierten die Nationalsozialisten sogar, weil diese an Reichstagswahlen teilnahmen und für ihn daher zu gemäßigt waren. Ernst Jünger wurde durch die Veröffentlichung einer Reihe von literarischen Beschreibungen seiner Kriegserfahrungen sehr bekannt. Der erste Weltkrieg war nach Jünger kein Krieg der Helden, sondern einer der Maschinen. Die Soldaten waren dem Giftgas und der Kriegstechnik ausgeliefert. Statt, wie es Klages tat, ein Zurück zur Natur zu fordern, sah Jünger die Lösung für die Herausforderungen der modernen technischen Welt darin, dass der Mensch wieder Souveränität gegenüber der Technik erlangt. Zum Ende des Ersten Weltkrieges wurde Jünger als Stoßtruppkämpfer eingesetzt. Diese neue Taktik ermöglichte es den Soldaten, aus dem Stellungskrieg auszubrechen. Der Stoßtruppkämpfer ist nicht mehr passiv der Gewalt anonymen Materials ausgesetzt, sondern bewältigt den modernen Krieg, indem er aktiv mit der technischen Apparatur verschmilzt.[^4] Das vermeintliche Ideal des Stoßtruppenkämpfers war für Jünger in seinen politischen Schriften in den 1920ern der Lösungsansatz für die Krise der Moderne und für die Überwindung der Demokratie der Weimarer Republik.
Auch die anderen Vertreter der sogenannten Konservativen Revolution forderten die Abschaffung der Demokratie und die Einführung eines autoritären Regimes. Die Kritik der Technik ging dabei mit einer Kritik der liberalen Gesellschaft einher. Ihnen erschien der Parlamentarismus als politische Form des bloß rationalen und technischen Zeitalters und sie wendeten diesem das Ideal der organischen Gemeinschaft entgegen. Sie wendeten ihre Kritik aber genauso gegen die wilhelminische Monarchie und den alten Nationalismus, weil er ihnen wie der Parlamentarismus als morsch und erstarrt erschien. Der neue Nationalismus frönte dem Dynamischen, der Jugend und dem Natürlichen. Ein anderer einflussreicher Vertreter der Konservativen Revolution war Hans Freyer. Dieser entstammte der bündischen Jugend und war auch Teilnehmer des Jugendfests am Hohen Meißner 1913. Dies zeigt, dass es starke inhaltliche und personelle Überschneidungen der Reformbewegung vor dem Ersten Weltkrieg und der politischen Rechten danach gab. Freyer wurde in den 1920ern Soziologe und versuchte in seinen Büchern einen starken Staat zu begründen und die liberale Gesellschaft zu kritisieren. Er hoffte, dass ein starker Staat die Macht haben wird, die Technik, die in der Moderne zu einem Selbstzweck geworden sei, wieder zu dem zu machen, was sie ursprünglich war: ein Mittel, das der Befriedigung menschlicher Ziele dienen soll.
Die Technikkritik war zentrales Narrativ der radikalen Rechten in der Weimarer Republik. Die philosophische Debatte um die Technik wurde durch den Zweiten Weltkrieg lediglich unterbrochen. In den 1950er und 60er Jahren beteiligten sich wieder Intellektuelle aus der Weimarer Republik, wie Hans Freyer, an der Diskussion. Einflussreich in dieser Zeit war der Aufsatz von Martin Heidegger mit dem Titel „Die Frage nach der Technik“. Das Neue an seinem Ansatz ist, dass er die Technik aus ihrer Zweck-Mittel-Relation herauszunehmen versucht.
« Ihnen erschien der Parlamentarismus als politische Form des bloß rationalen und technischen Zeitalters und sie wendeten diesem das Ideal der organischen Gemeinschaft entgegen. »
Gewöhnlich wird in der Debatte die Technik als ein Mittel verstanden, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Das Mittel besitzt diese Möglichkeit, weil es die Ursache für eine bestimmte Wirkung ist. Die Zweck-Mittel-Relation wird üblicherweise kausal gedacht. Zum Beispiel dient die Axt dazu, das Holz zu spalten, weil sie die Spaltung des Holzes bewirkt. Heidegger jedoch denkt über die ursprüngliche, griechische Bedeutung der Technik nach. Er bedenkt, dass in der griechischen Philosophie vier Ursachen angenommen worden sind, wovon die moderne Kausalität nur eine unter mehreren Ursache-Wirkungs-Relationen darstellt. Die vier Ursachen zusammen führen zu einem Hervorbringen von etwas, zu einem Entbergen, zur Wahrheit. Das Spezifische der modernen Technik besteht nun darin, dass die Natur nicht gehegt und gepflegt, sondern herausgefordert wird. Unbearbeitete Natur ist nichts anderes als Lagerstätte oder ungenutzte Ressource. In der Moderne wird die Technik universell, weil alles aus der Perspektive der Technik gesehen und beurteilt wird. Die Technik verstellt den Bezug zum Sein. Sie wird zum Gestell.
Am Beispiel Heideggers zeigt sich, dass die Debatte um die Technik nach dem Zweiten Weltkrieg produktiv fortgeführt wird. Die Frage nach der Technik stellt sich in dieser Zeit auch deswegen, weil die Technik die Gesellschaft immer mehr bestimmt, zum Beispiel aufgrund der Versuche der Planung und Verwaltung der Gesellschaft mithilfe der Computer. Die Diskussion über die Atombombe verweist auf das Gefahrenpotential und die zerstörerische Macht der Technik und ermahnt zur Verantwortung der Wissenschaft. Spätestens seit den 1980er Jahren kommen verstärkt wieder ökologische Aspekte zu dieser Diskussion hinzu. Durch diese Diskussion ökologischer Gefährdungen durch die Technik drang die Technikkritik auch in bürgerliche und linke Diskurse vor. So sinnvoll es ist, über Technik philosophisch zu reflektieren, kann es erhellend sein, sich den historischen Ursprüngen der Technikkritik zu vergewissern. Denn dies zeigt, dass Technikkritik häufig zu rechter Ideologie verkommen ist. Diese Gefahr müsste eine reflektierte Philosophie der Technik stets berücksichtigen. In aller Kürze daran zu erinnern, war die Absicht dieses Textes.