Philipp Lahm – DAS SPIEL (2022)
Die meisten Jungen dürften diese Erfahrung als Kind gemacht haben: Man jagt wild dem Ball hinterher, schreit nutzlos in der Gegend herum, und dann, wenn die Gelegenheit kommt, schießt man den Ball in Richtung Tor. Dann schreit man wieder rum, oder macht sonstige Faxen. Im Fußball waren manche begabter, andere weniger, dann gab es aber auch immer diejenigen ohne jeden Sinn für Körperkontrolle und Fußkoordination – denen musste man stets ausweichen, denn sie waren stets die Gefährlichsten.
Lebhaft können solche Erfahrungen sein, dieses freudige Rumrennen und Rumschreien, und dies zumeist mit vielen anderen, und vielleicht ist dies eines der Gründe, warum Fußball so populär ist, ja, weil fast jeder denkbare Junge auf der Welt weiß, wie es sich anfühlt, einen Ball durch die Gegend zu schießen, oder ihn zu einem Freund zu passen, und sicher, einige Mädchen oder Frauen werden diese Erfahrung auch gemacht haben. Umso interessanter wird es dann, wenn man nicht mehr selbst spielt, sondern sich Profisportler*Innen anschaut, die aus diesem Spiel eine Karriere gemacht haben. Das Spiel sich dann in eine maximal-seriöse Angelegenheit: Es geht um Geld, Skandale, Vorbilder, Ruhm, Nationalität, Ideale, manchmal auch um Menschenrechte.
Philipp Lahms Buch “DAS SPIEL” – ein Titel in Großbuchstaben – handelt von der sehr erwachsenen, seriösen Seite des Spiels. Dort geht es zum einen um die besten Talente, ihre spezielle Art der Sozialisierung, es geht um Herausforderungen bzw. die speziellen Anforderungen, die Fußballspieler*Innen zu meistern haben, die in die Profi-Liga kommen wollen. Zum anderen geht es aber auch um den Sport als eine Praxis, um Werte zu erlernen und zu verbreiten, wie etwa Fairness, Regeltreue und Achtung – also dieselben Werte, die hochgehalten werden, wenn es darum geht, in einem Unternehmen, in denen beschissene Arbeitsverhältnisse vorliegen, zu funktionieren.
Interessiert man sich für Fußball – ohne sich darin gut auszukennen –, so wird man Freude an dem Buch haben, denn Lahm erläutert in seinem Buch auch verschiedene Strategien des Fußballs und auch diverse Rollen (z.B. “Individualist” vs. “berechenbarer Routine-Spieler”), die Fußballer*Innen einnehmen. Fußball kann, wenn man es sich mit einem geschulten Auge anschaut, sehr schnell zu einer strukturellen bzw. verkopften Angelegenheit werden und Philipp Lahm, der gemeinhin als einer der intelligentesten Spieler gilt, erläutert diese Vorgänge auch für Laien auf eine sehr verständlich Weise, was vielleicht auch Ergebnis einer gelungenen redaktionellen Arbeit sein kann.
Langweilt man sich am Fußballspiel als Gegenstand, so kann man das Buch auch als Ausdruck einer neoliberalen Subjektivität lesen, die sich durchgesetzt hat, und sich nun vorbildlich um das Wohl der anderen kümmern bzw. gegen das Übel der Welt einsetzen kann, wie z.B. Rassismus. Dieses Problembewusstsein wird in Sätzen wie diesem deutlich: “Bei den Förderungsangeboten sollte man allerdings so vorgehen, dass sie auf der anderen Seite keine Erinnerung an die Kolonialzeit wachrufen. Ich selbst bemühe mich im Rahmen meiner Stiftungsarbeit, Menschen, mit denen ich in Afrika zu tun habe, spüren zu lassen, dass ich sie als Partner auf gleicher Augenhöhe wahrnehme” (S. 120). Warum muss man anderen seinen eigenen Respekt spüren lassen und respektiert sie nicht einfach?
Das Buch könnte, kurzum, auch aus einer ideologiekritischen Perspektive interessant sein. Ständig ist die Rede von den Top-Talenten, die den höchsten Anforderungen unterworfen werden, von Erfolg und Druck, Druck und Erfolg – das wird zu einem Mantra in diesem Buch, durchaus aber auch mit unterhaltsamen Pointen: “Für alle Topspieler gilt, dass in dieser Altersklasse die Erfahrung auf ganz hohem Niveau machen müssen, dem Druck standzuhalten und zu zeigen, dass sie in der Lage sind, etwas zum Spiel und zum Erfolg beizutragen. Passiert das nicht, bleibt der Druck aus, dann wirst du nicht zum Diamanten” (S. 91).
Und eine der ehrlichsten oder unverblümtesten Lehren dieser Leistungsmoral ist die, dass nicht jede*r zum Diamanten werden kann, sondern nur jene, die schon einen solchen in sich tragen.