Normalität als zweite Natur
Im „Corona-Jahr“ hat sich unser Alltag erheblich verändert. Mit den Strategien, den Virus in Schach zu halten, gehen Einschränkungen, Herausforderungen und Belastungen einher, wie z.B. der Lockdown oder das Homeschooling. An einige andere Veränderungen haben sich die meisten mittlerweile gewöhnt. Die Masken ziehen wir beim Einkaufen wie selbstverständlich auf. Die Abstandsregeln haben wir intuitiv verinnerlicht, sodass wir schnell merken, ob jemand zu Nahe kommt. Auch haben viele – vor allem viele Ältere – einen entspannteren Umgang mit Videokonferenzen und Homeoffice gefunden. Vor dem Ausbruch des Virus hätten sich die meisten nicht vorstellen können, dass diese Veränderungen zu einem neuen Alltag werden können. Wir haben uns sogar so sehr daran gewöhnt, dass vielleicht einige Praktiken nach Corona beibehalten werden. Vielleicht wird es üblich, sich mit dem Ellenbogen zu begrüßen? Oder kehrt der traditionelle Handschlag als Symbol für den Sieg über die Pandemie zurück? Wie auch immer es kommen wird, das „Corona-Jahr“ hat die Normalität unseres Alltags erschüttert, aber gleichzeitig neue Normalitäten erschaffen.
Doch es musste nicht erst Corona kommen, damit das, was normal ist, als recht kontingent erscheint. Es gehört zu den Erfahrungen einer Urlauberin, in einem anderen Land mit den Sitten und Gebräuchen der dort Lebenden konfrontiert zu werden. Man passt sich gern den dortigen Konventionen an. Man will ja auch nicht ständig als Touristin auffallen. Außerdem kann in manchen Ländern ein Verstoß gegen die dortigen Normen schnell als Beleidigung aufgefasst werden. In Japan zum Beispiel begrüßt man sich für gewöhnlich mit einer Verbeugung. Je höher der andere in der gesellschaftlichen Hierarchie steht, desto tiefer muss ich mich verbeugen. Von Touristen wird erwartet, sich dem anzupassen. Fehltritte werden ihnen aber nachgesehen, gerade weil sie Touristen sind. Die Mitglieder einer Gesellschaft besitzen nicht die Joker-Karte eines Urlaubers. Ihnen wird ein Übertreten der Sitten nicht so einfach verziehen. Doch sie wachsen in der jeweiligen Kultur auf und verinnerlichen sie, ohne darüber nachdenken zu müssen. Sie haben sogar die Konventionen so sehr übernommen, dass sie diesen überhaupt nicht in der Distanzhaltung eines Touristen begegnen können. Viel eher werden Verstöße gegen die Normen mit Gefühlen begleitet, die von Überraschung, über Empörung bis zu Entsetzen reichen können. Den Menschen eines bestimmten Landes – und somit auch uns, die wir hier leben – sind die Konventionen so vertraut, dass wir gar nicht bemerken, dass es sie gibt. Sie fallen erst auf, wenn sie gestört werden.
Émile Durkheim, einer der Gründerväter der Soziologie, hat diese Phänomene bereits 1895 sehr genau beschrieben.
„Wenn ich mich geltenden Konventionen der Gesellschaft nicht füge, etwa in meiner Kleidung den Gewohnheiten meines Landes und meiner Klasse keine Rechnung trage, wird die Heiterkeit, die ich errege, und die Distanz, in der man mich hält, auf sanftere Art denselben Erfolg erzielen wie eine eigentliche Strafe.“
Zu Durkheims Zeiten war die Kleiderordnung der gesellschaftlichen Schichten und Klassen noch restriktiver als zur heutigen Zeit. Doch der Punkt, den Durkheim macht, gilt heute immer noch. Zur sozialen Kontrolle bedarf es keiner expliziten Strafe. Verstöße gegen die Regeln der Normalität werden ebenso geahndet, jedoch auf eine sanftere Art. Aber nur weil diese Art sanfter ist, ist sie lange nicht weniger effektiv.
Und gerade aufgrund ihrer Sanftheit fügen wir uns vielleicht gern den Konventionen. Meistens merken wir es aber gar nicht. Die Normen und Regeln und gleichsam ihre sanktionierenden Mittel sind unsichtbar. „Wir werden von Illusionen genarrt, die uns einreden, wir hätten selbst geschaffen, was uns in Wahrheit von außen auferlegt wurde. Die Selbstgefälligkeit, in der wir uns gehen lassen, maskiert den erlittenen Druck. Allein sie beseitigt ihn nicht. Ähnlich wie die Luft nicht an Gewicht verliert, wiewohl wir ihre Last nicht mehr fühlen.“ Wir haben uns so sehr an das Gewicht der Luft gewöhnt, dass wir sie nicht wahrnehmen, auch wenn sie da ist. Diese Einsicht macht Durkheim zum Grundkonzept seiner Soziologie. In der Soziologie ginge es darum, soziale Tatbestände (fait sociale) zu beschreiben, die für gewöhnlich den Handelnden im Alltag unsichtbar sind, aber nichtsdestotrotz, ihnen einen permanenten Zwang auferlegen. Der soziale Tatbestand ließe sich nicht auf Psychologisches zurückführen und darin unterscheide sich nach Durkheim die Soziologie von der Psychologie. Das Soziale bestehe als Tatsache außerhalb des Willens und Bewusstseins einzelner Handelnder und übe eine unbemerkte, aber dauerhafte Macht auf sie aus.
Da die Konventionen und der damit verbundene Zwang unsichtbar sind, können sie nur sichtbar gemacht werden, indem sie gestört werden. So gesehen ist eine Urlaubsreise eine Störung, weil ich als Tourist mein gewohntes Umfeld verlasse, mit einer mir fremden Kultur konfrontiert werde und als Touristin stigmatisiert werde, was seine Vor-und Nachteile hat. Als Touristin lerne ich, dass Menschen in anderen Ländern anders ihr Leben leben und dadurch werde ich über die Kontingenz meiner eigenen Kultur bewusst. Reisen bildet eben.
Störungen finden darüber hinaus in unserem Alltag statt, zum Beispiel wenn jemand zu spät kommt oder beim Essen schmatzt. Die Kultur hat zugleich Kompensationsmechanismen für solche Störungen entwickelt. Diese bestehen in der höflichen Bitte, das Schmatzen zu unterlassen oder das nächste Mal pünktlich zu sein. Selten muss dann darüber diskutiert werden, ob diese Einforderung der Einhaltung der Normen sinnvoll ist oder nicht. Das Gegenüber merkt, dass einem diese Normen wichtig sind. Und das reicht meistens aus. Jedoch kann man Situationen provozieren, in denen keine solche Kompensationsoptionen etabliert sind. Solche soziologischen Krisenexperimente hat Harold Garfinkel durchgeführt. Er hat z.B. seine Studierenden beauftragt, U-Bahn zu fahren, während kaum Betrieb ist. Sie sollten sich dann direkt neben eine Person setzen, obwohl das ganze Abteil leer ist. Die Frage war dann, wie die Person mit dieser Störung umgeht. Wird sie die Studentin höflich bitten, sich woanders hinzusetzen? Wird sie wütend? Oder geht sie ohne etwas zu sagen und setzt sich woanders hin? Dieses Experiment weist darauf hin, dass wir das Gefühl eines Mindestabstands verinnerlicht haben und uns unangenehm fühlen, wenn ein Fremder zu Nahe kommt. Dieses Gefühl hat sich womöglich durch Corona noch verstärkt. Garfinkel hat noch viele andere solcher Krisenexperimente durchgeführt. Sie zeigen, dass unser Alltag überhaupt erst durch diese unbemerkten Regeln und unsichtbaren Konventionen zu einem Alltag wird. Störungen und Abweichungen von der Normalität werden sehr spontan geahndet, ohne dass den Verteidigern der Norm das wirklich bewusst ist. Sie tun es einfach, ohne darüber zu nachzudenken. Sie üben Zwang aus, der ihnen nicht als Zwang erscheint, weil: „Das macht man halt so.“
In der Hegelschen Tradition hat sich der Begriff der zweiten Natur für den Zwang der Normalität etabliert. Als erste Natur wird die Natur bezeichnet, deren Gesetze und Regelmäßigkeiten die Physik, Chemie und Biologie beschreibt. Der Mensch kann die Naturgesetze nicht aushebeln. Das Gravitationsgesetz gilt überall. So muss sich der Mensch auch den Gesetzen der Kultur und der Gesellschaft fügen. Diese wirken wie eine zweite Natur. Hegel fasst die Gewohnheit als zweite Natur auf. Die Gewohnheit hat den Vorteil, dass Sie der Moralität einen entsprechenden Inhalt verleiht und sie dadurch zur Sittlichkeit macht. Aber sie hat den Nachteil, dass der Mensch aus zu viel Gewohnheit stumpf werden und geistig sterben kann.
Beeinflusst durch Hegel verschärfen Georg Lukács und Theodor W. Adorno die negative Dimension des Begriffs des zweiten Natur. In seiner Theorie des Romans schreibt Lukács über die zweite Natur: „sie ist ein erstarrter, fremdgewordener, die Innerlichkeit nicht mehr erweckender Sinneskomplex; sie ist eine Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten“.
Lukács betont, was einmal Ausdruck eines lebendigen Willens und mit Intention war, kann mit der Zeit in festen Formen erstarren und etwas dem Willen Äußerliches werden.
In Bezug auf eine Marxsche Begrifflichkeit qualifiziert Lukács die erstarrte Kultur als Entfremdung zwischen dem Menschen und seinen Gebilden. Eigentlich könnte man annehmen, dass sich der Mensch mit Hilfe seines Geistes, durch die Beherrschung des Feuers und durch die Herstellung von Werkzeugen von den Nöten und Zwängen der natürlichen Umwelt befreit habe. Die Produkte des Menschen jedoch, seine Technik und die von ihm geschaffenen kulturellen Gebilde, wie Religion und Wissenschaft, üben einen neuen Zwang auf den Menschen aus. Genau diese Ambivalenz zwischen Nutzen und Nachteil der Wissenschaft und der Vernunft ist das Thema der Dialektik der Aufklärung von Horkeimer und Adorno. Wissenschaft und Technik als Ideologie und als Institution haben neue Herrschaftsformen über den Menschen etabliert. Was in geschichtsphilosophischer Perspektive tragisch wirkt, wiederholt sich im profanen Alltag permanent, denn auch gut gemeinte Normen, Regeln und Konventionen des täglichen Miteinanders erstarren häufig zu einer fremd erscheinenden zweiten Natur.
Diese Gesellschaftsanalyse könnte pessimistisch stimmen. Trotzdem hält Adorno an der Hoffnung, dass die Welt doch einmal in einen befreiten Zustand eintreten könnte, fest. So sei der Mensch nicht total der zweiten Natur im Kleinen und Großen ausgeliefert. Vor allem kritisiert Adorno Denker, die das Phänomen der zweiten Natur nicht als historisch Entstandenes und von den Menschen tagtäglich Reproduziertes beschreiben, sondern sie als eine wissenschaftliche Tatsache missverstehen. An Durkheim schätzt Adorno, dass er den unsichtbaren Zwang der Konventionen herausgearbeitet hat, wirft ihm aber vor, diesen Zusammenhang als überhistorisches Faktum zu verdinglichen. „Bei Durkheim registriert die naturwissenschaftliche Methode, die er verficht, die Hegelsche ‚zweite Natur‘, zu der Gesellschaft den Lebendigen gegenüber gerann.“ Darüber hinaus vernachlässige Durkheim die Handelnden, die in ihrer alltäglichen Praxis Normen und Normalität hervorbringen. „So wenig die gesellschaftliche Vermittlung ohne das Vermittelte, ohne die Elemente: Einzelmenschen, Einzelinstitutionen, Einzelsituationen existierte, so wenig existieren diese ohne die Vermittlung.“ Adorno versucht, Vermitteltes und Vermittlung dialektisch zu denken.
Adornos Einsicht klingt recht plausibel. Aber wie sähe so eine Vermittlung genau aus? Adorno ist dieser Frage in weiteren Schriften nachgegangen. Auch die Soziologie nach ihm hat dieses Problem nicht losgelassen. Über das sogenannte Mikro-Makro-Problem, also das Problem der Vermittlung von Gesellschaft und Individuum, wird in der soziologischen Theorie immer noch diskutiert. Simon Lohse hat ist seinem erst kürzlich erschienen Buch Die Eigenständigkeit des Sozialen wichtige Argumente zu der Debatte klar und gründlich zusammengefasst. Hier zeigt sich, dass der Durkheimsche Ansatz in logische Probleme gerät. Die sozialen Tatsachen sind bei Durkheim gerade durch ihre Unabhängigkeit vom Bewusstsein und von den Handlungen der Einzelnen geprägt. Er versteht die Gesellschaft als eine Realität sui generis. Jedoch will Durkheim nicht in einen Substanzdualismus verfallen und mit denselben Problemen konfrontiert werden wie Descartes Dualismus von Geist und Körper. „Kraft dieses Prinzipes (dass das Ganze nicht mit der Summe seiner Teile identisch ist, M.H.) ist die Gesellschaft nicht bloß eine Summe von Individuen, sondern das durch deren Verbindung gebildete System stellt eine spezifische Realität dar, die einen eigenen Charakter hat. Zweifellos kann keine kollektive Erscheinung entstehen, wenn kein Einzelbewußtsein vorhanden ist; doch ist diese notwendige Bedingung allein nicht ausreichend.“ Die Rede davon, dass das Ganze mehr ist als die Summe ihrer Teile erinnert an das Phänomen der Emergenz. Und tatsächlich wird Durkheims Position heute als Vertreter einer emergenten Position begriffen, genauer als Vertreter einer starken Emergenz. Eine höhere Ebene ist dann stark emergent, wenn sie nicht auf die darunterliegende Ebene reduziert werden, obwohl sie allein von der unteren Ebene her emergiert, d.h. entsteht. Im Gegensatz dazu liegt schwache Emergenz dann vor, wenn die Phänomene höherer Ebene vollständig durch die untere Ebene erklärt werden können.
Diese Unterscheidung zwischen starker und schwacher Emergenz ist nicht ganz unwichtig. Der Philosoph Jaegwon Kim wirft dem Ansatz der starken Emergenz vor, dass ungeklärt bleibe, wie genau die höhere Ebene auf die untere wirkt, wenn jene nicht auf diese reduzierbar ist. Kim plädiert daher für das Konzept der schwachen Emergenz und verteidigt in der Philosophie des Geistes die Ansicht, dass das Bewusstsein in neuronalen Prozessen emergiert und gleichzeitig auf diese zurückzuführen sei. In der soziologischen Theorie ist das Problem ähnlich gelagert wie in der Philosophie des Geistes. Daher können Argumente, die sich gegen die starke Emergenz richten, auf die Frage nach der Eigenständigkeit des Sozialen übertragen werden. Mit den Argumenten von Kim kritisiert somit Simon Lohse in seinem Buch die Soziologie von Durkheim und verteidigt den Ansatz des methodologischen Individualismus in der Tradition von Max Weber.
Doch dagegen könnte man mit Adorno wiederum einwenden, dass ein solcher Individualismus die Gestaltungsmöglichkeiten individueller Akteure überschätzt und die Eigenständigkeit des Sozialen, die unsichtbaren Zwänge der Konventionen und die Macht der Normalität vernachlässigt. „Die Antithesis zu Weber indessen bleibt so partikular wie dessen Thesis, weil sie bei der Nichtverstehbarkeit sich beruhigt wie jener beim Postulat der Verstehbarkeit. Stattdessen wäre die Nichtverstehbarkeit zu verstehen, die den Menschen gegenüber zur Undurchsichtigkeit verselbstständigten Verhältnisse aus Verhältnissen zwischen Menschen abzuleiten.“ Mit Adorno muss man annehmen, dass Entfremdungserscheinungen genauso ernstzunehmen sind, wie die Hoffnung auf Rettung.