Lob des Ping Pong
I’m with you in Rockland
Where you scream in a straightjacket
that you’re losing the game
of the actual pingpong of the abyss.
– Allen Ginsberg
Ich hatte das große Privileg in einem Haus aufzuwachsen, zu dem ein Garten gehörte. Nicht nur ein Garten, sondern ein Garten samt Tischtennisplatte. Eine grüne Kettler, die dort immer noch steht, inzwischen stellenweise farblos und verwittert. Das Vorhandensein dieser Platte eröffnete mir schon sehr früh die Möglichkeit, das vielleicht großartigste Ballspiel aller Zeiten zu erlernen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mein Vater mich nach einigen gemeinsam unternommenen Übungsversuchen dazu aufforderte, die eine Seite der Platte hochzuklappen, um für und gegen mich selbst Vorhand und Rückhand zu trainieren. Am besten immer im Wechsel – Vorhand, Rückhand, klick klack, klick klack, ping pong. So wie man’s von Forrest Gump kennt. Da ich Spaß daran hatte, erlernte ich die grundlegenden technischen Anforderungen des Spiels recht schnell.
Auch das Apartmenthotel “Sol Sancti Petri” in Andalusien, bevorzugtes Reiseziel meiner Eltern, verfügte über eine Tischtennisplatte. Eine blaue. Dort konnte ich meine an der heimischen Kettler erlernten Fähigkeiten gegen internationale – meist spanische – Gegner testen und musste bald feststellen, dass ich blutiger Anfänger war. Aber auch wenn ich meistens verlor, lernte ich in diesen Spielen doch wenigstens die spanischen Zahlen bis elf oder gar 21, und viel wichtiger noch: Ich lernte, dass es beim Ping Pong nicht ums Gewinnen geht. Es geht darum, ins Gespräch zu kommen. Damals, als wir in erwähntes Hotel in Andalusien in den Urlaub fuhren, war ich ein kleiner Junge von vielleicht sechs oder sieben Jahren, und kannte nur ein paar vereinzelte spanische Wörter. Das Ping Pong-Spielen mit den mehrheitlich spanischen Kindern dort stellte den Erstkontakt her und sorgte dafür, dass ich auch bei anderen ihrer Spiele miteinbezogen wurde. Daraus folgere ich, dass Tischtennis eine Form der Kommunikation darstellt. Eine Sprache, gewissermaßen. Sie ist einfach und deshalb universell: Die einzigen Wörter lauten klick klack, ping pong.
Eine weitere Kindheitserinnerung, die ich mit dem Ping Pong verbinde, ist das Rundlauf-Spiel, das wir spätestens seit der Zeit auf dem Gymnasium regelmäßig und ritualhaft in den Pausen praktizierten. Rundlauf, für Unkundige, spielt man mindestens zu dritt, besser aber mit noch mehr Spielern (nach oben gibt es keine Grenze – herrlich!). Nachdem man den Ball auf die andere Seite der Platte geschlagen hat, wartet man nicht wie beim Einzel oder Doppel auf den Return des Gegners, sondern hechtet stattdessen so schnell wie möglich dem Ball hinterher auf die andere Seite, wo man dann zu gegebener Zeit seinen Return spielt. Verpasst man den Ball, scheidet man entweder direkt aus oder verliert – je nach Regelwerk – ein Leben. Da wir in der Schule meist nicht genug Schläger für alle Mitspielenden zur Verfügung hatten, spielten viele mit ihrer Brotdose oder auch einfach mit der Hand. Da wir oft auch keine richtigen Ping Pong-Bälle hatten oder die vorhandenen durch Unachtsamkeit zertreten wurden, nutzten wir kleine Fußbälle, Flummis, Volleybälle oder was sich eben sonst so fand. Auch hier zeigte sich regelmäßig die integrative Kraft, die von diesem Spiel ausgeht: Spätestens, wenn es hieß: “Einstieg!”, waren alle wieder am Start.
Nach meinem Abitur verbrachte ich, was in meinem Jahrgang eine absolute Ausnahme war, einen “Work and Travel”-Aufenthalt in Australien. Bereits das erste Hostel, in dem ich ein Zimmer nahm – es lag in St. Kilda, Melbourne – hatte zu meiner großen Freude im Innenhof eine Platte stehen, zu der man sich Schläger und Ball an der Rezeption ausleihen konnte. In diesem Hostel verbrachte ich etwa zwei Wochen, und die Erinnerung, die mir am deutlichsten vor dem inneren Auge steht, sind die Ping Pong-Matches, die ich dort mit einem ungefähr vierzigjährigen Italiener ausfocht. Wir redeten sonst zunächst kaum miteinander. Er war deutlich älter als ich und dem Äußeren nach zu urteilen schon länger als Backpacker unterwegs. Gewiss hätte er spannende Geschichten zu erzählen gehabt. Aber da ich als absoluter Novize in diesem Lebensstil, noch dazu erst 18, sicherlich ein wenig schüchtern war, verständigten wir uns mit den Worten, die Schläger, Ball und Platte für uns artikulierten: klick klack, ping pong. Wir spielten wie die Besessenen, waren auf einem ähnlichen Niveau. Nachdem uns das aufgefallen war, einigten wir uns darauf, unserer Obsession eine Grenze zu setzen, und also bei 100 von einem Spieler gewonnen Spielen aufzuhören. Ehrlich: Ich weiß nicht mehr, wer am Ende gewonnen hat, aber es war ziemlich knapp, glaube ich... Zwischen den Spielen, beim Seitenwechsel, rauchten wir gern gemeinsam einen Joint und kamen auf diese Weise auch über andere Themen ins Gespräch. Schließlich fungierte unser groß angelegtes Duell eigentlich nur noch als selbstgesetzter Rahmen, in dem sich zwei Menschen gegenseitig kennenlernen konnten.
Trotz meiner früh erwachten Liebe zum Ping Pong erwog ich nie, diesem Spiel in der professionelleren Umgebung eines Vereins nachzugehen. Das lag zum einen sicherlich daran, dass ich in meiner Jugend leidenschaftlicher Fußballer war und daher nicht die Zeit gehabt hätte, zusätzlich zum Tischtennis-Training zu gehen. Zum anderen aber, und dieser Punkt scheint mir aus der Retrospektive zu überwiegen, hätte das intensive Technik-Training wohl dazu geführt, dass die soziale Seite dieses von mir geliebten Spiels auf kurz oder lang abhandengekommen wäre. Ich hatte ein paar Leute in meinem Freundeskreis, die Tischtennis im Verein spielten; gegen sie in der Freizeit anzutreten, machte wenig Spaß, da ihre Fähigkeiten die meinigen so exorbitant überstiegen, dass ich teilweise keinen einzigen Return bringen konnte, was die spielerische Kommunikation verunmöglichte. Schlimmer noch: Einige der Profis konnten sogar den genauen Ort vorhersagen, wohin ich ihre Angabe versohlen würde – immer meilenweit von der Platte entfernt, ein riesengroßes Missverständnis.
Auch in meinem Bachelorstudium in Freiburg machte ich die Erfahrung, dass das Tischtennis Vereinsleben dem kommunikativen Geist des Ping Pong, den ich so schätze, eher abträglich ist: Mit drei Kommilitonen – wir spielten des Öfteren eine Partie zusammen – beschloss ich eines frostigen Wintertages zur Unisportgruppe Tischtennis zu gehen, um auch in der kalten Jahreszeit auf unsere Kosten zu kommen. Die dort regelmäßig Teilnehmenden würdigten uns Neuankömmlinge keines Blickes. Sie bauten ihre Platten auf und fingen an zu spielen. Wir taten es ihnen gleich und hatten durchaus unseren Spaß. Nach 90 Minuten wurden die Platten wieder abgebaut und alle gingen nach Hause, noch immer ohne dass jemand auch nur einmal das Wort an uns gerichtet hätte. Das war so ernüchternd, dass wir nie wieder hingingen.
Durch die konsequente Weigerung, meine Ping Pong-Leidenschaft zu professionalisieren, ging der spielerische Charakter dieser Tätigkeit für mich nie verloren und blieb immer der Grund, der mich an die Platte zog. Deshalb spreche ich in diesem Kontext lieber von Ping Pong als von Tischtennis, lieber von einem Spiel als von einem Sport. Sicherlich haben alle Ballsportarten ein spielerisches Moment, das jedoch – so kenne ich es aus meiner fußballerischen Erfahrung – ab einem gewissen Leistungsniveau und Professionalisierungsgrad in den Hintergrund rückt. Die Freiheit, die beim Spielen im Allgemeinen von höchster Wichtigkeit ist, wird durch Wettbewerb, Disziplin und kompetitives Verhalten maßgeblich eingeschränkt. Dass es beim Ping Pong nichts um’s Gewinnen geht, erwähnte ich bereits; hier sei noch hinzugefügt, dass gerade die Freiheit, Fehler zu machen und sich einen feuchten Kehricht darum zu kümmern, ein zentrales Element der spielerischen Qualität ausmacht. Schon Schiller wusste bekanntlich, dass man erst im Spiel als Mensch ganz zu sich selbst kommt. Die negativen Effekte des Konkurrenzdrucks, der im (Leistungs-)Sport vorherrscht, lassen sich etwas zugespitzt als Dorn des neoliberal-kapitalistischen Paradigmas im Menschenfleisch beschreiben, die zur Selbstoptimierung auch da anhalten, wo eigentlich das freie Experimentieren mit seinen menschlichen Vermögen geboten wäre.
Fast-Forward in die Fast-Gegenwart: Der größte Verdienst, den mir das Ping Pong persönlich erwiesen hat, ist nämlich hier anzusiedeln. Im Winter 2020/21, als der zweite Lockdown das öffentliche Leben erneut still stellte und sich die Kontakte zu Freund_innen auf einen zwangsläufig kurzen Spaziergang in der winterlichen Kälte beschränkten, verfielen meine beiden Mitbewohner und ich völlig unverhofft aufs Neue dem großartigen Zeitvertreib des Ping Pong. Ganz in der Nähe unserer damaligen Wohnung befindet sich eine Schule, auf deren Pausenhof einige Platten aufgestellt sind. Dort spielten wir bei Wind und Wetter, mit unserem Duschabzieher und einigen Lappen ausgerüstet, um die Feuchtigkeit zu beseitigen. Erneut flackerte die Flamme der Obsession auf, die auch schon in Australien in mir loderte. Die Witterungsbedingungen waren widrig, unser Eifer dafür aber umso wilder, stellenweise an Wahnsinn grenzend. Wir spielten sogar in der Wohnung und waren derart konzentriert bei der Sache, dass wir alle in erstaunlich kurzer Zeit erstaunlich große Fortschritte machten. Von mir selbst kann ich bezeugen, dass meine Motivation, einen hart umkämpften Ballwechsel für mich zu entscheiden, nicht selten dazu führte, dass nach einem Punkt für mich ein laut schallendes “TISCHTENNIS!” über den Hof dröhnte und die wenigen Vögel aus den kahlen Bäumen aufschreckte. Da unsere Tage leer, der Schulhof und seine Platten schnell zu erreichen waren, schoben wir kurze, halbstündige Sessions nach dem Mittagessen ein, die Körper und Geist erfrischten, bevor wir uns wieder in die Vereinzelung des Home-Office zurückzogen.
Mein Onkel schenkte mir in jenem Pandemiewinter einen Erzählband von Benedict Wells zu Weihnachten; ein Autor, den ich bis dahin bewusst gemieden hatte, aus Gründen, die der Klappentext des Erzählbands zu bestätigen schien. Dementsprechend widerwillig blätterte ich durch das Geschenk, bis eine Geschichte mit dem Namen “Ping Pong” meine Aufmerksamkeit weckte. Ich verschlang den kurzen Text in einem Rutsch und fand darin meine eigenen Erfahrungen im Lockdown erzählerisch ausgestaltet und zur Metapher verdichtet: Zwei Männer werden entführt und in einem kellerartigen Raum untergebracht, wo sie nichts haben außer ihrer Gesellschaft, regelmäßigen Mahlzeiten und – einer Tischtennisplatte samt Schlägern und Ball. Sie beginnen gegeneinander zu spielen, und tun dies tagtäglich voller Inbrunst, die sich aufgrund mangelnder Alternativen bis zur Sucht, zur Besessenheit auswächst, ähnlich wie ich es von meinen Mitbewohnern und mir kannte. Als die beiden Protagonisten irgendwann wieder auf freiem Fuß sind, und auch dies sollte sich in meiner persönlichen Erfahrung wiederfinden, machen sie sich ohne Umschweife auf die Suche nach einer Platte, um ihrer Leidenschaft weiterhin frönen zu können. Die Parallelen zu unserer Situation im Lockdown waren nicht zu übersehen, und sie sorgten dafür, dass ich mir sogar noch ein paar weitere Erzählungen aus Wells’ Band, der übrigens “Die Wahrheit über das Lügen” heißt, zu Gemüte führte.
So wie die zwei Männer der Kurzgeschichte gelangten auch meine Mitbewohner und ich, ja die gesamte Bevölkerung gelangte irgendwann, ich kann es gar nicht mehr genau datieren – die Pandemie macht aus der Zeit einen einzigen Brei, der steht anstatt zu fließen –, wieder “auf freien Fuß”. Der Lockdown endete, der Frühling hielt Einzug, und damit auch die eigentlich für das hier besungene Spiel besser geeignete Jahreszeit. Die Menschen strömten zuhauf in die Parks und besetzten alle Platten – Tischtennis war nach dem Spazierengehen der zweite “Volkssport”, den die Pandemie hervorgebracht hatte. Durch unser winterliches Training starteten meine Mitbewohner und ich mit einem gehörigen Vorsprung aus der Off-Season und waren bereit, es mit jedem und jeder aufzunehmen.
Ungefähr zu diesem Zeitpunkt wurde mir allerdings bewusst, dass ich die zarte, kommunikative und integrative Qualität des Spiels, die dafür sorgte, dass ich mich in jungen Jahren ins Ping Pong verliebte, aus den Augen verloren hatte. Sie war den Winter über einer kalten Obsession gewichen, die sich mit dem unbedingten Willen zu siegen paarte; ein hässliches Kind ging aus dieser Verbindung hervor. Tatsächlich war ich aus den meisten der Matches gegen meine Zimmernachbarn siegreich hervorgegangen, was mich dazu verleitete, ihnen meine spielerische Überlegenheit ständig in hämischen Spötteleien unter die Nase zu reiben. Dass die durch das gegenseitige soziale Überstrapazieren bereits gereizte Stimmung, der sich Zusammenwohnende im Lockdown notwendigerweise ausgesetzt sehen, durch mein großspuriges Verhalten noch weiter überspannt wurde, kann man sich leicht denken.
Es war also an der Zeit, das Ping Pong Spiel im sich ankündigenden Frühling wieder auf andere Bahnen zu lenken. Die Bahnen der Freundschaft, der Kommunikation, der Offenheit und des Mit- statt Gegeneinanders. Was könnte sich dafür besser eignen, als das oben bereits beschriebene Spiel des Rundlaufs? Tatsächlich erinnere mich heute sehr gern an jene Sonntagnachmittage in den völlig überlaufenen Parks zurück, an denen man mit fremden Menschen ins Gespräch kam, weil man zuvor gemeinsam eine Partie gespielt hatte. Für mich, der ich in sozialen Gefügen aufblühe und dessen Bedarf nach zwischenmenschlichen Begegnungen im von social distancing geprägten Winter hoffnungslos unerfüllt geblieben war, schimmerte hier zum ersten Mal wieder ein Moment von Hoffnung auf. Hoffnung darauf, dass die Pandemie das soziale Miteinander nicht komplett und nachhaltig ruiniert hat. Darauf, dass Begegnungen wieder möglich sein werden. Das Ping Pong-Spiel stellte im Frühling die Weichen für einen Sommer, der sich nach dem entbehrungsreichen Winter und geschützt durch das Impfserum tatsächlich wie ein Aufatmen anfühlte. Zur Entstehungszeit dieses Textes hält allerdings der nächste Winter Einzug, die Pandemie wütet wie noch nie zuvor, und ich wohne nicht mehr mit meinen beiden ehemaligen Ping Pong-Kumpanen zusammen. Zwar hält sich die Politik mit einschränkenden Maßnahmen derzeit noch zurück, aber wenn die Pandemie mich bislang eines gelehrt hat, dann, dass man stets gefasst sein sollte auf Schlimmeres. Ich suche schon mal meine Schläger und wappne mich *for the game of the actual pingpong of the abyss…