Rezension zu "Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus" von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey
Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger haben mit ihrem neu erschienen Buch nicht nur ihre langjährigen empirischen Forschungen zur Querdenker:innenbewegung zusammengefasst und für ein breiteres Publikum aufgearbeitet; sie haben auch den Versuch unternommen, der Empirie eine theoretische Rahmung zu geben.1 Mit diesem Anspruch entwickeln sie den – zunächst paradox anmutenden – Begriff eines Sozialtypus des ‘libertären Autoritarismus’. Libertär ist die Querdenker:innenbewegung, weil eine vorerst nicht weiter bestimmte Freiheit für sie die zentrale Norm bzw. den höchsten Wert darstellt, die sie durch die staatlich verordneten Corona-Maßnahmen während der Pandemie bedroht wähnte. Zugleich sind, wie die Autor:innen durch Interviews und Fragebögen zeigen können, typisch autoritäre Einstellungen (z.B. Intoleranz gegenüber anderen Meinungen, Chauvinismus und mitunter Fremdenfeindlichkeit) in dieser Bewegung verbreitet, die sich zum Teil auch im positiven Bezug auf die AfD ausdrücken.
Die Ergebnisse dieser empirischen Studien werden in den letzten beiden Kapiteln des Buches (Kapitel 7 und 8) zusammengefasst. In den ersten fünf Kapiteln wird in Anknüpfung an unterschiedlichste theoretische Ansätze, vor allem der Tradition der Kritischen Theorie und den “Studien zum autoritären Charakter” folgend, das Konzept des libertären Autoritarismusentwickelt. Das sechste Kapitel stellt einen Exkurs zu den umstrittenen Äußerungen verschiedener öffentlicher Intellektueller während der Pandemie dar.
Der theoretische Ausgangspunkt, der im ersten Kapitel entwickelt wird, bezieht sich zentral auf die “Studien zum autoritären Charakter”, die Adorno und seine Mitarbeiter:innen ab 1944 unternahmen. Ziel dieser Studien war es, herauszufinden, welche Charakterstrukturen ein Individuum für autoritäre und antidemokratische Einstellungen empfänglich machen. Ein zentrales Ergebnis dieser Studien war, dass der autoritäre Charakter nicht nur durch Unterwürfigkeit gegenüber Autoritätspersonen geprägt ist, sondern sich auch selbst autoritär gibt in der Verurteilung von Normüberschreitungen anderer. Daneben beziehen sich Nachtwey und Amlinger auch auf Adornos Kollegen Erich Fromm, der in seinen Forschungen eine ebenfalls spezifisch autoritäre Lust am eigenen Unterworfen-Sein herausgearbeitet hat. Ein zentraler Bezugspunkt der Autor:innen stellt außerdem die Untersuchung Marcuses zum Zusammenhang zwischen Liberalismus und Faschismus dar; ein Zusammenhang, der sich vor allem bei von Ludwig von Mises und Carl Schmitt finden lässt, und dem Hermann Heller die treffende Bezeichnung ‘autoritärer Liberalismus’ gegeben hat. Dieses erste Kapitel mit der Überschrift “Kritische Theorie der Freiheit” gibt einen Überblick zu den Überlegungen einiger Autor:innen der Kritischen Theorie zur Idee der Freiheit, ihren Verstrickungen und ihrem Verhältnis zum autoritären Denken. Jedoch, und das zeichnet auch alle weiteren Kapitel des vorliegenden Buchs aus, bleibt es bei einer bloß eklektischen Aufzählung theoretischer Versatzstücke. Eine systematisch-begriffliche Ausarbeitung einer Theorie des ‘libertären Autoritarismus’ wird hier nicht durchgeführt.
Seit den 1940er und -50er Jahren, in denen die Studien zum autoritären Charakter durchgeführt wurden, hat sich der Kapitalismus nicht unerheblich gewandelt. Um den damaligen Ansatz und die theoretischen Überlegungen für die heutige Zeit fruchtbar zu machen, muss die ideologische Dominanz des Neoliberalismus in Wirtschaft und Gesellschaft, die seit dem Ende der 1970er begann, einbezogen werden. Im Unterschied zum dominanten Konservativismus und dem faktischen Autoritarismus in Erziehung, Familie und vielen anderen Lebensbereichen zur der Mitte des 20. Jahrhunderts ist im Zuge des Neoliberalismus die Idee individueller Freiheit zur dominanten Norm geworden, die jedoch selbst als Freiheits-Idee Widersprüchlichkeiten aufweist. Das zweite Kapitel „Freiheit in Abhängigkeit: Dialektik der Individualisierung“ rekonstruiert das Spannungsverhältnis neoliberaler Gesellschaften, das dadurch entsteht, dass der Wert der individuellen Freiheit im Bewusstsein der Öffentlichkeit immer wichtiger geworden ist, aber zugleich die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse die Realisierung der Freiheitsidee unterlaufen. Gesellschaftlich drückt sich der Neoliberalismus dementsprechend im Phänomen negativer Individualisierung aus. Gemeint sind damit zum einen negative Aspekte, die mit der Individualisierung zusammenhängen, wie Konkurrenzdenken, Entsolidarisierung, zwanghafte Selbstoptimierung, etc.; zum anderen der äußere gesellschaftliche Druck zum Vollzug eben dieser Individualisierungsleistung. “Der ubiquitäre Wettbewerb ist somit selbst ein wesentlicher Motor negativer Individualisierung. Er verspricht Fairness und Chancengleichheit, verstärkt aber gleichzeitig die Ungleichheiten” (S. 78). Der Neoliberalismus verherrlicht den Individualismus und sorgt zugleich für dessen Destabilisierung. Was übrig bleibt ist die Verbreitung von verdinglichter Freiheit, die radikalisierte Ansprüche in Bezug auf eben jene widersprüchlichen, individuellen Freiheitsräume hervorruft.
Im Hintergrund dieser Rekonstruktion steht ein anderes Buch von Nachtwey von 2016 über die “Abstiegsgesellschaft”, in dem er die sozialstrukturellen Folgen der Austeritäts- bzw. Sparpolitikpolitik und des Sozialstaatsabbaus beschreibt. Nachtwey prägte hier den Begriff der regressiven Modernisierung, welcher den Sachverhalt bezeichnet, dass Gesellschaften in einzelnen Feldern hinter vormals erreichte Standards zurückfallen. Im dritten Kapitel des neueren Buches von Nachtwey und Amlinger werden die im engeren Sinne politischen Dimensionen der regressiven Modernisierung beleuchtet. Zum einen ist eine Gegen-Demokratie entstanden, bei der sich die Öffentlichkeit in verschiedenste, voneinander isolierte Arenen und Echokammern fragmentiert hat. Zum anderen sind mit diesem Prozess Gegen-Epistemologien (abweichende Wissensordnungen) verknüpft, da jede dieser fragmentierten Räume gegensätzlichen epistemischen Annahmen über die Welt folgt – sich also mit komplett unterschiedlichen Bezugspunkten und Wahrheitskriterien auf die Realität zu beziehen versucht. So wurden innerhalb der Querdenker:innenbewegung die internationalen Forschungen zum Themenkomplex Coronavirus hinterfragt und stattdessen von Gegen-Expert:innen ein alternatives Wissen verbreitet. Eine politische Debatte mit den Querdenker:innen, und damit die Schaffung einer gemeinsamen Öffentlichkeit, wurde extrem erschwert, weil die übergreifende Basis gemeinsamer epistemischer Standards als grundlegende Diskursbedingung erodiert ist.
Neben dieser epistemischen Dimension betrachten Nachtwey und Amlinger im vierten Kapitel “Soziale Kränkung” die Dimension sozialer Gefühle. Für viele Querdenker:innen stellte die Abhängigkeit vom Expert:innenwissen etablierter Virolog:innen und Epidemolog:innen eine Kränkung dar. Aber nicht nur diese Fremdwissensabhängigkeit führt zur Kränkung. Auch die oben beschriebene negative Individualisierung und die Verbreitung verdinglichter Freiheitsvorstellungen im Neoliberalismus stellen den sozioökonomischen Kontext für die Entstehung und Verbreitung eines sensibilisierten Selbstbilds dar, das leicht für narzisstische Kränkungen anfällig ist. Darauf reagiert das neoliberale Subjekt mit einem Portfolio verschiedenster Typen sozialer Gefühle, wie Scham, Groll und Ressentiment. Gesellschaftliche Probleme, die ihre Ursachen oft in der Austeritätspolitik haben, werden individualisiert. Im Griff des eigenen Ressentiments wird daraufhin die individuelle Verantwortung für den polit-ökonomischen Zustand der Gesellschaft vollständig von sich gewiesen und restlos auf andere Individuen übertragen. Die Schuld wird personifiziert, da es dem neoliberalen Gesellschaftsbild nach ohnehin nur Individuen gibt, die soziale Prozesse bestimmen. Dass hierin auch eine Ursache für antisemitische Einstellungen liegen kann, wird zwar erwähnt (S. 144), aber die Rolle des Antisemitismus in der Querdenker:innenbewegung wird nicht systematisch untersucht.
Im fünften Kapitel werden die Überlegungen der vorhergehenden Kapitel verdichtet und der Sozialtypus des libertären Autoritarismus als eine Bewegung der verdinglichten Freiheit aufgefasst. Die zentrale Fragestellung wird dabei hervorgehoben: Wie konnte das normative Ideal der Freiheit sich mit zutiefst illiberalen Ansichten verbinden? Die Ursachenbeschreibung zur Entstehung dieses neuen Sozialtypus ist überzeugend herausgearbeitet. “Zum einen werden Individuen mehr denn je als selbstbestimmte Subjekte adressiert, während sie gleichzeitig keine souveräne Kontrolle über die sozialen Bedingungen haben, auf deren Grundlage sie ihre kompetitive Autonomie entfalten sollen” (S. 174, Herv. im O.). Doch während die Ursachenbeschreibung Plausibilität besitzt, weist die konzeptionelle Fassung des libertären Autoritarismus Mängel auf.
Dass die neue Bewegung libertär ist, in dem Sinne, dass Freiheit ihr höchster Wert darstellt, ist evident. Doch mit dem Aspekt des Autoritarismus scheinen Nachtwey und Amlinger selbst konzeptionelle Schwierigkeiten zu haben. Ein Autoritarismus ohne bindende Autoritätsfigur erscheint ihnen selbst als paradox. Sie fragen sich, inwiefern die Menschen als autoritär bezeichnet werden können, obwohl sie doch die Einmischung von oben – vonseiten der Regierung – ablehnen. Zur Beantwortung dieser Frage werden zwei Aspekte genannt: (a) es besteht eine feindselige Abwertung und aggressive Abwehr anderer Positionen; und (b) es verbreitet sind gleichzeitig ein Groll gegen übergeordnete Instanzen und Zorn auf unterlegene Gruppen (S. 178). Diese Aspekte beschränken sich jedoch bloß auf negative Gefühle und individuelle Aggressivität. Für eine wirklich begriffliche Schärfung des Autoritarismus reicht dies aber nicht aus. An anderer Stelle schreiben die Autor:innen, dass die libertären Autoritären die einzige Autorität in sich selbst finden (S. 292). Aber ist das nicht immer schon ein Grundgedanke des Liberalismus, der demokratischen Emanzipationsbewegung und gar der Aufklärung gewesen?
Die Figur des libertären Autoritarismus klingt aufgrund ihrer Paradoxie interessant, und besitzt zur Beschreibung der Querdenker:innenbewegung eine gewisse Ausgangs-Plausibilität. Jedoch gelingt es Nachtwey und Amlinger trotz umfangreicher Theoriekapitel nicht, diesen neuen Sozialtypus begrifflich scharf zu charakterisieren. Was der Untersuchung abgeht, ist eine Begriffs- und Ideengeschichte, die historisch-systematisch die Entstehung eines neuen Sozialtypus rekonstruieren und plausibilisieren könnte.
Was ist eigentlich das Autoritäre? Der politische Konservativismus im 19. Jahrhundert hat mit dem Konzept der Autorität die politische Idee der Demokratie kritisiert, die auf einem bloß mechanischen Verfahren beruhen würde. So plädiert der konservative Staatsrechtler Friedrich Julius Stahl für Autorität statt Majorität.2 Von liberaler Seite wird den Konservativen eine Unklarheit in der Verhältnis-Bestimmung von staatlicher und kirchlicher Autorität vorgeworfen. Diese konflikthafte Spannung führte zu einer Schwächung des Konzepts der Autorität, bis es im Zuge der sogenannten Konservativen Revolution in den 1920er Jahren unter neuartigen Bedingungen eine Reaktualisierung erfuhr.3
Das Bemerkenswerte dabei ist – und dies könnte eine systematische Ideengeschichte aufzeigen – dass die Vertreter der Konservativen Revolution zentrale Grundgedanken des Liberalismus weiterführten, transformierten, und einseitig radikalisierten. Der Historiker Ishay Landa zeichnet in seinem 2021 auf deutsch erschienen Buch nach, wie die liberale Tradition den Faschismus befruchtet hat.4 Landa geht zwar wiederum mit dem Begriff des Faschismus nicht präzise um, aber er zeigt mit textnahen Deutungen vieler rechtsradikaler Autor:innen auf, dass diese doch viele Ideen vertreten, die klassischerweise dem Liberalismus zugeordnet werden. Dass der Faschismus trotz aller Wirtschaftsreformen das Privateigentum an Produktionsmitteln nicht angetastete, hat die marxistische Faschismusforschung bereits betont. Landa erweitert sie um eine ideologiekritische Perspektive. So sind bei den zentralen Vertretern der Konservativen Revolution, wie Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck oder Carl Schmitt, nicht nur wirtschaftsliberale Positionen verbreitet. Sie vertreten auch einen sehr spezifischen Subjektbegriff, der stark nietzscheanisch geprägt ist. Dieses Subjekt fühlt sich in seiner Freiheit eingeschränkt durch die strenge christliche Moral, den Geist der Rationalität sowie Bürokratie und Parlamentarismus des modernen Staates. Typisch lebensphilosophisch wird im Subjekt ein schöpferisches Potential gesehen, das durch die bloß rationale Zivilisation in seiner Entfaltung behindert wird. Die Vertreter der Konservativen Revolution vertraten demnach konkrete Freiheitsvorstellungen, die sie aber viel eher in einer starken Führerpersönlichkeit verwirklicht sahen, als in einer parlamentarischen Demokratie.
Der Freiheitsbegriff der Konservativen Revolution weist somit strukturelle Ähnlichkeiten mit dem der aktuellen Querdenker:innenbewegung auf. Eine so ansetzende Ideengeschichte, die hier nur angedeutet werden konnte, könnte das Konzept des libertären Autoritarismus begrifflich schärfen. Das Buch von Nachtwey und Amlinger skizziert einen Ansatz, der zur Beschreibung aktueller sozialer Bewegungen hilfreich erscheint, jedoch konzeptionell noch weiter entwickelt werden müsste.
Fußnoten
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Vgl. Amlinger, Carolin/ Nachtwey, Oliver, Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Berlin 2022. ↩
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Vgl. Rabe, Horst, Autorität, in: Brunner, Otto/ Conze, Werner/ Koselleck, Reinhart (Hg), Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1978, S. 382-406. ↩
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Vgl. Raabe, Hannah, Autoritär, in: Ritter, Joachim (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971, S. 723-724. ↩
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Vgl. Landa, Ishay, Der Lehrling und sein Meister. Liberale Tradition und Faschismus, Berlin 2021. ↩