Gamification
Der Softwarekonzern SAP hat seit einiger Zeit eine Gamification-Beauftragte. Sie sorgt dafür, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Betrieb während der Arbeitszeit Spiele spielen. Gemeinsam oder allein. Das klingt [klinge] vielleicht verrückt, habe aber gute Gründe, so die Beauftragte. Denn das gemeinsame Spielen fördere die Teamfähigkeit, steigere die Motivation und führe zu einer spielerischen Aneignung von Wissen. Wie sieht so ein Spiel aus? Angenommen das Bewusstsein für Datensicherheit soll bei den Beschäftigten verbessert werden. Um dies zu erreichen gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder es wird eine Email an alle Mitarbeitenden mit wichtigen Informationen zum Thema IT-Sicherheit und mit hilfreichen Tipps verschickt. Dabei hofft man, dass das Gelesene in die Praxis umgesetzt wird. Ob die Angestellten wirklich durch eine Email motiviert werden, ist jedoch fraglich.
« Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Mitarbeitenden dazu zu verpflichten, ein Computerspiel zu spielen. »
Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Mitarbeitenden dazu zu verpflichten, ein Computerspiel zu spielen. Bei einem solchen Spiel sammelt man Punkte, wenn man im Spiel sichere Passwörter nutzt, wenn man seine USB-Sticks nicht sorglos irgendwo herum liegen lässt, und wenn man allgemein seine Daten vor Angriffen schützt. Minuspunkte erhält man, wenn einem dies nicht gelingt. Am Ende gibt es einen Highscore aller Mitarbeitenden. Dies motiviert die Spielenden dazu, sich Mühe beim Spiel zu geben, denn niemand will gern verlieren. Im Spiel besteht also ein Anreiz, sich ein Bewusstsein für IT-Sicherheit anzutrainieren. Diese spielerisch angeeigneten Fähigkeiten können dann direkt im Berufsalltag umgesetzt werden. Eine bloße Email hätte die Mitarbeitenden wohl nicht so sehr motiviert, ihre Alltagspraxis zu ändern. Obwohl das Spiel virtuell ist, können Fähigkeiten, die im Spiel erworben worden sind, in der Realität umgesetzt werden. Denn das zu fördernde Verhalten oder Bewusstsein in der Wirklichkeit ist auch im Spiel gefordert. Somit dient das Computerspiel als Lernmedium. Von Lernmedien gibt es unterschiedlichste Arten. Das besondere bei Spielen ist, dass der Unterhaltungswert von vorn herein mit bedacht ist. Ein Spiel, das keinen Spaß macht, ist kein gutes Spiel, vielleicht sogar überhaupt kein Spiel im eigentlichen Sinne. Es ist offensichtlich: wenn das Lernen Spaß macht, lernt es sich leichter. Ein weiterer Vorteil von Spielen ist, dass sie stets interaktiv sind. Die Spielerin oder der Spieler sind keine passiven Rezipienten, sondern übernehmen eine aktive Rolle. Die Spielenden werden auch sofort mit den Folgen ihres Verhaltens im Spiel konfrontiert. Entweder sie gewinnen oder verlieren Punkte. So gesehen ermöglichen Lernspiele auf dem Computer ein interaktionsnahes Feedback. Wenn man an die Schule zurückdenkt oder auch an eine Vorlesung an der Uni, so ist der Frontalunterricht am interaktionsärmsten. Bei der Gruppenarbeit sind die Lernenden aktiver und dadurch auch motivierter. Aber der Lernerfolg kann durch die Klassenlehrerin oder den Klassenlehrer nicht unmittelbar kontrolliert werden. Nur wenn die Lehrperson zu den einzelnen Lerngruppen hinzukommt, oder am Ende, wenn alle wieder zusammenkommen, kann ein Feedback und die Überprüfung der Lerninhalte erfolgen. Beim Lernspiel wird unmittelbar der Lernerfolg kontrolliert, da die Spielenden direkt Punkte erhalten oder abgezogen bekommen. Dieses Feedback kann im Spiel zu einer Steigerung des Ehrgeizes und der Motivation führen. Daher wird seit einigen Jahren auch in Deutschland Gamification im Schulunterricht erprobt. Im Unterricht in der Schule oder auch in der Fortbildung in Unternehmen wird vermehrt Gamification eingesetzt. Die Motivation zum Lernen kann durch Gamification sowohl intrinsisch angeregt werden, weil Lernen durch das Spiel Spaß macht, als auch extrinsisch, da die Lernenden durch den Mechanismus des Sammelns von Punkten quantitativ vergleichbar sind und unmittelbar Highscores entwickelt werden können. Diese Vorteile der Quantifikation von Lernerfolgen kann man auch bei diversen Apps beobachten, z.B. dass man eine bestimmte Anzahl von Schritten am Tag gegangen sein oder Vokabeln gelernt haben muss. So können die User direkt sehen, inwiefern sie sich im Vergleich zum Vortag oder zu anderen Usern verbessert haben. Ihre Grenze findet diese Quantifikation von Lerninhalten jedoch darin, dass nicht alles, was zur Bildung dazu gehört, quantifiziert werden kann. Daher kann vor allem im Schulunterricht die Gamification maximal eine Ergänzung zur klassischen Didaktik sein. Abgesehen von individuellem Lernen können Spiele im Klassenzimmer oder im Unternehmen zum Team-building hilfreich sein. So können in Computerspielen Gruppen gegeneinander antreten. Man hilft sich im Team gegenseitig und steht in Konkurrenz zu anderen Gruppen, was den eigenen Gruppenzusammenhalt stärkt. Z.B. hat SAP in Online-Spielen die Mitarbeitenden verschiedener Niederlassungen als Teams gegeneinander antreten lassen. Neben dem Lernen von konkreten Inhalten und der Stärkung des Gruppenzusammenhalts können Spiele auch Entfaltungsräume für kreatives Ausprobieren sein. Denn Spiele, auch Brettspiele, sind in dem Sinne virtuell, dass sie während des Spiels bestimmte Regeln vorgeben, die nach Beendigung des Spiels nicht mehr gelten. So schafft jedes Spiel, besonders aber ein Computerspiel, virtuelle Räume, in denen ein Lernen, Ausprobieren und Erkunden möglich ist. Es stellt eine geschützte Umgebung für Experimente dar. Die Förderung von Kreativität durch Spielen kann daher in kreativen Bereichen eines Unternehmens, wie z.B. der Produktentwicklung, nützlich sein. Gamification ist seit ein paar Jahren zu einem neuen Modewort bei Unternehmensberater:innen und sogenannten Coaches geworden. Es gibt viele Vorträge und TED-Talks, in denen es darum geht, wie Gamification nicht nur die Schule und das Arbeitsleben, sondern letztlich die ganze Welt verbessern kann. Eine Begeisterung scheint um sich zu greifen, dass der graue Arbeitsalltag durch die Integration von Spielen bunter gemacht werden kann und das gerade dies noch die Motivation der Beschäftigten und damit auch die Produktivität steigern könne. Gerade diese Begeisterung sollte aber skeptisch stimmen. Man wähnt doch schnell, dass es unter dem Deckmantel lustiger Spiele letztlich bloß um Leistungssteigerung geht. So fügt sich die Gamification der Arbeitswelt in in das Spektrum zahlreicher anderen Reformen der Arbeit ein, die seit den 80er und 90er Jahren zuerst in den USA, dann in der restlichen Welt um sich griffen und mit Hilfe des Schlagwortes des Neoliberalismus beschrieben werden. Die Unternehmen sind nicht mehr wie früher streng hierarchisierte Organisationen, in die sich Arbeitende und Angestellte einzufügen hatten. Seit den 90ern ist oft die Rede von flachen Hierarchien, von Teambuilding, von Work-Life-Balance und Flexibilisierung. Man geht nicht mehr bloß seiner Arbeit nach, und danach ist Feierabend – sondern man macht Projekte, soll sich mit dem Unternehmen identifizieren und stets hohen Einsatz zeigen. Diese neoliberale Arbeitswelt verlangt vom Einzelnen viel mehr ab, und zugleich liefert sie viele Kompensationsmethoden, wie Yoga am Arbeitsplatz und ähnliches. Neoliberalismus heißt Maximierung der Leistungsfähigkeit bei gleichzeitiger Maximierung der Effektivität von Entspannung. Die Freizeit wird somit einer Marktlogik unterworfen.
« Neoliberalismus heißt Maximierung der Leistungsfähigkeit bei gleichzeitiger Maximierung der Effektivität von Entspannung. Die Freizeit wird somit einer Marktlogik unterworfen. »
Eine Möglichkeit, die Leistungsfähigkeit bei Freizeitaktivitäten zu steigern ist, sie zu gamifizieren. Dazu dienen die vielen Apps, die deine Schritte zählen, deine Kalorien, deinen Puls, etc. So wird der Sport in der Freizeit zu einem Spiel, bei dem es darum geht, Punkte zu sammeln, jeden Tag mehr Schritte zu tun und den Highscore zu knacken. Dieser erweiterte Wettbewerbsgedanke tritt nun, wie wir gesehen haben, durch die Gamification in die Arbeitswelt hinein. Somit stehen nicht nur, wie es in der Marktwirtschaft immer schon der Fall war, einzelne Unternehmen in einem Wettbewerb zueinander, sondern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst konkurrieren untereinander und überbieten sich in Sachen Motivation, Leistungsbreitschaft, Freundlichkeit, etc. Diese Vermarktlichung betriebsinterner Strukturen ist ein wesentliches Moment des Neoliberalismus. Die Gamification ist deshalb so perfide, da dieser neoliberale Wettbewerb sich als bloßes Spiel tarnt. Und die Beschäftigten geben häufig an, dass ihnen diese Spiele am Arbeitsplatz wirklich Spaß machen. Somit wird der Spaß, die Freude am Spiel zu einem weiteren Moment in der kapitalistischen Verwertungslogik. Während also durch die Gamification Lohnarbeitsverhältnisse zu Spielen gemacht werden, werden Spiele, die früher nur dem Bereich der Freizeit vorbehalten waren, ökonomisiert. Viele Spiele sind darauf angelegt, dass etwas gezählt wird – letztlich die Punkte, die zum möglichen Sieg führen. Bei den ernsten Spielen in Betrieben und im Unterricht werden im Zuge der Gamification viele Bereiche quantifiziert. Was vorher nicht durch Zahlen gemessen werden konnte, kann gerade durch die Spiele gezählt werden, sei es dein Lernfortschritt, dein Niveau an Motivation, deine Teamfähigkeit und vieles mehr. Der Hype um Gamification fügt sich also in den allgemeinen Trend ein, die Welt immer weiter messbar zu machen. Der Soziologie Steffen Mau hat in seiner Studie „Das metrische Wir“ (2017) gezeigt, wie vor allem durch die Digitalisierung das Soziale messbarer wird. Und erst durch diese Vermessung werden Dinge vergleichbar und somit bewertbar. Durch diese Vergleichbarkeit und Bewertbarkeit kann dann eine Wettbewerbssituation entstehen. Dieser Trend zur Quantifizierung wirkt sowohl in der Freizeit, als auch im Arbeitsalltag, sei es ob eine App deine Schritte zählt oder dass die Kundenzufriedenheit gemessen wird. Die Gamifizierung der Welt stellt daher letztlich nur eine neue spielerische Methode dar, die Welt zu messen, Daten zu sammeln und Daten nutzbar zu machen. Diese Entwicklungen verändern letztlich uns selbst. Die Spiele in der Arbeitswelt greifen auf eine Ressource des Humankapitals zu, die immer schon ein begehrtes Objekt war: die intrinsische Motivation. Denn man arbeitet lieber, wenn die Motivation von einem selbst kommt und die Arbeit Spaß macht.
« Die Spiele in der Arbeitswelt greifen auf eine Ressource des Humankapitals zu, die immer schon ein begehrtes Objekt war: die intrinsische Motivation. Denn man arbeitet lieber, wenn die Motivation von einem selbst kommt und die Arbeit Spaß macht. »
Statt wie früher die Angestellten extern zur Arbeit motivieren zu müssen, werden jetzt ihre eigenen Bedürfnisse und motivierenden Emotionen genutzt. Statt die Mitarbeitenden zur Arbeit und zu Leistung zu disziplinieren, kommt es durch die Gamification zur Selbstdisziplinierung. Michel Foucault war Ende der 70er der erste, der sehr hellsichtig diese Phänomene der Selbstdisziplinierung beobachtete und sie in Verbindung zur damals beginnenden Epoche des Neoliberalismus brachte. Foucault demonstrierte seine Überlegungen am Beispiel des Panoptikums, eine Form der Gefängnisarchitektur, die seit dem 19. Jahrhundert an vielen Orten verwirklicht worden ist. Die Einzelzellen des Gefängnisses sind dabei im Kreis angeordnet, in dessen Mitte sich der Wachturm befindet. Von dort aus haben die Gefängniswärter, mit Hilfe von Ferngläsern, Einsicht in jede einzelne Gefängniszelle. Die Gefangenen können nicht sehen, ob sie in einem bestimmten Moment beobachtet werden. Es besteht jedoch permanent die Möglichkeit dazu. Somit sind die Gefangenen dazu genötigt, zu jedem Zeitpunkt den Regeln der Strafvollzugsanstalt zu folgen, da sie die Möglichkeit der Beobachtung und der Kontrolle stets antizipieren müssen. Dies führt zu einer Selbstdisziplinierung. Foucault analysiert in seinen vielen Schriften, wie sich diese Selbstdisziplinierung außerhalb der Gefängnismauern, also überall in der Gesellschaft vollzieht. Diese Selbstdisziplinierung wird aber von den meisten Menschen gar nicht bewusst wahrgenommen, sie vollzieht sich automatisch. Daher spricht Foucault von der Mikrophysik der Macht, von der Macht, die unscheinbar und subtil ist, die aber trotzdem – oder eigentlich dadurch – viel effizienter die Menschen zur Ordnung anhält. Diese Mikrophysik der Macht kann man auch an der Gamification beobachten. Wir sahen oben: der große Vorteil von Lernspielen und ernsten Spielen in den Betrieben sind interaktionsnahe Feedbacks. Die Spielenden bekommen direkt im Spiel mit, ob ihr Verhalten falsch oder richtig war, je nachdem ob sie Punkte erhalten oder nicht. Auch wenn das Verhalten, das angeeignet werden soll, sinnvoll und nützlich ist, wie ein Bewusstsein von IT-Sicherheit: die Art der Aneignung, also die Selbstdisziplinierung, bleibt als Herrschaftsform unbemerkt, da sie sich spielerisch mit Spaß und durch Nutzung von Selbstmotivation vollzieht. Die Selbstdisziplinierung der Mitarbeitenden im Unternehmen kann mit Hilfe der Gamification somit zur Produktivitätssteigerung sowohl zur Freude der Chefinnen und Chefs als auch der Mitarbeitenden genutzt werden.