Als ob: Wenn Adorno mit dem inneren Kind spielt
„Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben“, behauptet Ben Furman (2013) in seinem gleichnamigen Bestseller aus dem Segment der psychotherapeutischen Selbsthilfeliteratur. Darin entwickelt er die These, dass belastende oder traumatisierende Erfahrungen in der Kindheit nicht zwangsläufig auch eine fortdauernde Belastung im Erwachsenenalter nach sich ziehen müssen. Auch bei Adorno findet sich in seinem autobiographischen Rückblick ein starker, nicht selten verklärter Bezug auf die Prägung durch die eigene Kindheit. Claussen (2005) weist in seiner Adorno-Biographie darauf hin, wie dieses „letzte Genie“ (ebd.) seine Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil nach Frankfurt wie folgt begründet habe: „Ich wollte einfach dorthin zurück, wo ich meine Kindheit hatte und am Ende aus dem Gefühl, dass, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen“ (Adorno 1962, S. 395, zitiert nach Claussen 2005, S. 28). Dieser Rückblick oder Rückgriff auf die eigene Kindheit im Erwachsenenalter, der nicht selten von Nostalgie und einer (nachträglichen) Idealisierung geprägt zu sein scheint, kommt dabei wohl kaum ohne Bezug auf das Spiel als primäre, kindliche Erfahrungsform aus. Im vorliegenden Essay soll aus Perspektive der Kritischen Theorie bei Adorno und den kulturwissenschaftlichen Überlegungen zur Bedeutung des Spiels bei Huizinga (2013 [1938]) die Hinwendung zum „inneren Kind“ in der psychotherapeutischen Selbsthilfe als Bedürfnis interpretiert werden, kindliche Spielerfahrung im Erwachsenenalter erneut zu erleben. Dabei bestimmt Huizinga den „Homo ludens“ (ebd.) nicht nur als anthropologische Grundfigur,1 sondern auch das Spiel selbst als Grundlage für die kulturelle Entwicklung im Allgemeinen. Diese Überlegung wiederum soll in eine Konstellation mit dem popkulturell präformierten Erlebnis und den Möglichkeiten einer politischen, kritisch-emanzipatorischen Praxis gebracht werden.
Das Allgemeine der Gesellschaft spiegelt sich wider im Besonderen der individuellen Erfahrung und erschließt sich dadurch der kritischen Reflexion.
Vorweg sei angemerkt, dass hier keine pädagogische oder entwicklungspsychologische Abhandlung über die Bedeutung des Spiels im Kindesalter erfolgen soll, gleichwohl es gewinnbringend sein könnte, die nun folgenden Thesen aus der Perspektive einer kritisch-materialistischen Pädagogik oder Erziehungswissenschaft zu diskutieren. Vielmehr soll der retrospektive Rückgriff und die nachträgliche Befassung mit den Spielerfahrungen in der Kindheit aus der Deutungsperspektive von Erwachsenen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen – und inwiefern diese tendenziell regressive, rückwärtsgewandte Perspektive auch ein utopisches und emanzipatorisches Moment beinhalten könnte: als eine noch nicht verwirklichte Utopie von Heimat, die uns „allen in die Kindheit scheint“ (Bloch 1985, S. 1628) und paradoxerweise doch in die Zukunft weist. Dabei lässt es sich wohl kaum vermeiden, dass Erinnerungen an die eigene Kindheit sowohl des Verfassers als auch der Leser_innen reaktiviert werden. Diese Reaktivierung ist ein durchaus erwünschter Nebeneffekt und knüpft an das an, was Adorno in seiner Aphorismensammlung Minima Moralia (2003 [1969]) unternimmt: die Erfahrung von Gesellschaft im Allgemeinen und die Beschädigung der Individuen durch Vergesellschaftung im Besonderen lässt sich in Alltagserlebnissen und biographischen Erinnerungsfragmenten wiederfinden: Das Allgemeine der Gesellschaft spiegelt sich wider im Besonderen der individuellen Erfahrung und erschließt sich dadurch der kritischen Reflexion. Im Aphorismus mit dem Titel “Kaufmannsladen” befasst sich Adorno (2003 [1969], S. 304-306) mit Überlegungen zum kindlichen Spiel. Darin beschreibt er, wie die Gegenstände, die das Kind im Spiel verwendet, diesem quasi wie verwandelt erscheinen, als ob sie von ihrer instrumentellen Verwendung zumindest für diesen Moment befreit sein könnten: „Gerade indem es [das Kind, M. B.] die Sachen, mit denen es hantiert, ihrer vermittelten Nützlichkeit entäußert, sucht es im Umgang mit ihnen zu erretten, womit sie den Menschen gut und nicht dem Tauschverhältnis zu willen sind, das Menschen und Sachen gleichermaßen deformiert“ (ebd., S. 306). Das Spiel scheint also demzufolge ein emanzipatorisches Moment und das Potential für eine unmittelbare oder unreglmentierte Erfahrung zu beinhalten, die nicht wie sonst durch das vorherrschende Tauschprinzip und die instrumentelle Vernunft bestimmt wird und damit weniger entfremdet erscheint. Nach Dumbadze und Hesse (2015) hätte diese Art der Erfahrung tendenziell „(…) etwas mit jener äußersten Konzentration der Aufmerksamkeit zu tun, die gelegentlich kleine Kinder den einfachsten Dingen entgegenzubringenvermögen, um sich von etwas in Staunen versetzen zu lassen, was sie unwillkürlich interessiert und dabei kein identisches Objekt sein muss” (ebd., S. 10). Auch hier wird das emanzipatorische Potential des kindlichen Erlebens hervorgehoben. Es geht also dabei um eine unmittelbar-sinnliche Erfahrung mit den “Dinge[n] an sich” (ebd., S. 11), ohne diese instrumentell im Sinne der kapitalistischen Verwertungslogik zu verwenden, also um eine Art Rückverwandlung der im Spiel verwendeten Objekte in einen nicht entfremdeten Zustand, indem sie auf ihren Selbstzweck zurückgeführt werden. Gleichzeitig, und darin besteht das Spannungsfeld, finden im Spiel oft Gegenstände Verwendung, die unmittelbar den Bereichen der produktiven und reproduktiven Arbeit entnommen sind, wenn auch häufig im verkleinerten Maßstab – wie beispielsweise Spielzeug in Form von Baumaschinen oder Küchengeräten, oder wie es Adorno in dem genannten Aphorismus darstellt, wenn er vom titelgebenden „Kaufmannsladen“ oder dem „Rollwagen“ als Spielzeug spricht. Dabei könnte bereits durch dieses Format en miniature eine vom unmittelbaren Zweck befreite Zweckentfremdung zum Ausdruck kommen. Durch die verkleinerte Form wird offensichtlich, dass das Kind mit dem Spielzeugbagger nicht wirklich eine Straße bauen könnte, die dem Weg zur Lohnarbeit oder dem Warenverkehr dient. Aus dem Blickwinkel der spielenden Kinder tut dies dem dabei zu Tage tretenden Eifer jedoch keinen Abbruch. Huizinga spricht diesbezüglich davon, dass das Spiel von einem „heiligen Ernst“ (ebd., S. 27) geprägt sei, während gleichzeitig den Beteiligten der spielerisch-fiktive Charakter der Situation in der Regel bewusst bleibe. Der Hinweis, dass es sich dabei „bloß“ um ein Spiel handelt, ist allerdings nicht als Hinweis auf die Bedeutungslosigkeit der Spielsituation zu verstehen, wie Huizinga (ebd.) weiter ausführt.
Entwicklungspsychologisch kann das Spiel auch als Lernprozess, als Probehandeln und als das Einüben von Spielregeln verstanden werden (vgl. DeLoache, Eisenberg & Siegler 2005, S. 20) wobei sich nach der kulturwissenschaftlichen Definition von Huizinga (2013 [1938]) das Spiel gerade nicht durch eine instrumentelle Absicht, sondern durch eine gewisse Zwecklosigkeit auszeichne: „Das Spiel ist überflüssig“ (ebd., S. 16), insofern es als nicht lebensnotwendig erscheint, sondern allein dem Vergnügen diene. Eine solche Perspektive zeigt sich anschlussfähig an die oben dargestellte Überlegung von Adorno, dass die im Spiel verwendeten Gegenstände der Zweckmäßigkeit zumindest vorübergehend enthoben sind – und damit auch das Spiel an sich zum Selbstzweck wird. Dennoch erfüllt das Spiel eine wichtige, gesellschaftliche wie auch kulturelle Funktion, wie dies der Kabarettist Gerhard Polt abseits von wissenschaftlich-pädagogischen Überlegungen in einem Sketch mit dem Titel „Mensch ärgere dich nicht” pointiert karikiert.2 In dieser Episode wird eine Familienszene mit Vater, Mutter und Kind am Küchentisch nachgestellt. Die Eltern versuchen dabei, ihrem Sohn die Freude an Gesellschaftsspielen mit den folgenden Leitsätzen zu vermitteln “Das musst du von der heiteren Seite sehen, das ist doch bloß ein Spiel” oder „Dann wird solange gespielt, bis du den Ernst des Spiels einmal begreifst.“ Am Ende der Szene verstößt das zunehmend gekränkte Kind gegen alle Spielregeln und räumt wütend das Spielbrett ab. Hierbei wird das widerspruchsvolle Verhältnis zwischen Spiel und Ernst deutlich, deren Abgrenzung bisweilen zu verschwimmen droht. Vielleicht scheint gerade in der Kränkung, die insbesondere Kinder (wie in der eben geschilderten Szene von Gerhard Polt) oft expressiv zum Ausdruck bringen, wenn sie als Verlierende eines Spiels gelten, etwas Wahrhaftiges auf, was bei den Erwachsenen durch Affektkontrolle und Abhärtung durch die Kälte der bürgerlichen Verhältnisse sublimiert wird (vgl. Stückler 2014 S, 280): die schmerzhafte Erfahrung, auszuscheiden, die in der Spielsituation gern salopp relativiert wird durch die dann fast reflexhafte Reaktion: „Es ist doch bloß ein Spiel“. Dies zeigt sich auch in der Figur der Spielverderber_in, die sich mit dem Verlieren nicht zufriedengeben will oder mit dem fiktiven Modus nicht mehr einverstanden zeigt: aus Spiel wird Ernst. Huizinga charakterisiert diese Rolle wie folgt: „Dadurch, dass er [der Spielverderber, M. B.] sich dem Spiel entzieht, enthüllt er die Relativität und die Sprödigkeit der Spielwelt, in der er sich mit den anderen für einige Zeit eingeschlossen hat“ (ebd., S. 20). Das Spiel wird also verdorben, indem das dialektische Verhältnis zwischen Ernsthaftigkeit und spielerischem Moment einseitig aufgelöst wird: Das Verlieren wird dermaßen ernst genommen, als ob es über die Spielsituation hinaus ernsthafte Konsequenzen für die Person der Spielverderber_in hätte. Die Spielsituation wird dann als immanente Realität erlebt. Aus Spiel kann also Ernst werden und umgekehrt, wobei das Verhältnis zwischen diesen beiden Modi mehr auf einem Kontinuum mit fließenden Übergängen zu denken ist. In diesem Verhältnis von Ernst und Spiel spiegelt sich somit auch das Verhältnis von Realität und Phantasie als auch von immanenten und transzendierenden Momenten wider, in dem sich das Spielerische bewegt, wie dies auch Huizinga (2013 [1938]) darstellt und dabei die Gemeinsamkeiten von Spiel und religiösen Riten herausarbeitet. Demzufolge soll im Spiel wie auch im religiösen Ritual ein Moment erzeugt werden, der den Alltag transzendiert und dafür einen besonderen Raum und eine spezifische Zeit in Anspruch nimmt, die sich von den räumlich-zeitlichen Dimensionen der alltäglichen Routine klar unterscheidet (ebd., S. 24f).
Im Spiel zeigt sich somit einerseits das emanzipatorische Potential der unreglmentierten Erfahrung, andererseits aber auch das Risiko, schmerzhaft gekränkt und als Verlierer_in ausgeschlossen zu werden. Somit scheint das Spiel zwischen der Einübung von Alltag und der Transzendierung des Alltäglichen zu changieren. Gerade diese transzendierende Qualität scheint maßgeblich für das Bedürfnis zu sein, kindliche Erfahrung im Erwachsenenalter erneut zu erleben, während die kränkende Erfahrung und die damit verbundene Verletzlichkeit wiederum häufig in der psychotherapeutischen Arbeit mit den kindlichen Anteilen aufgegriffen wird (Chopich & Paul 2014; Stahl 2015).
Die Verwandlung ist somit als laufender Prozess und nicht als abgeschlossener Zustand zu verstehen.
Liegt vor diesem Hintergrund den spielerischen Momenten im Erwachsenenalter ein Bedürfnis zugrunde, „die Kindheit verwandelnd einzuholen“, wie es Adorno (a. a.O.) formuliert hat? Und was könnte mit dem Attribut des Verwandelnden gemeint sein? Zumindest lässt sich das spielerische Moment und die damit verbundene Erfahrung aus den Kindheitstagen demzufolge nicht unverändert im Erwachsenenalter rekonstruieren oder reproduzieren. Gleichzeitig bringt das Spiel an sich schon ein Moment der Verwandlung mit sich, wie es Huizinga definiert: als ein „Heraustreten“ aus dem gewöhnlichen Alltag (ebd., S. 16). Doch nicht nur das Spiel an sich bewirkt eine Verwandlung, sondern die kindliche Erfahrung kann Adorno zufolge retrospektiv nur in einer veränderten Form erschlossen und nacherlebt werden. Bemerkenswerterweise spricht hier Adorno nicht davon, die Kindheit verwandelt einzuholen, sondern das Einholen der kindlichen Erfahrung soll verwandelnd erfolgen. Durch diesen minimal erscheinenden Unterschied ergibt sich jedoch eine bedeutende Differenz: die Verwandlung ist somit als laufender Prozess und nicht als abgeschlossener Zustand zu verstehen. Gleichzeitig bleibt offen, ob die Kindheit selbst einem Verwandlungsprozess unterzogen oder umgedeutet werden soll, wie es Furman (2013) vorschwebt, demzufolge es nie zu spät sei, die eigene Kindheit als geglückt zu imaginieren. Andererseits lässt sich das von Adorno umschriebene Einholen als aktiver Zugriff, als zukunftsgerichtete Retrospektive auf die Erfahrungen der Kindheit im Erwachsenenalter deuten, die dadurch in einer verwandelten Form reinszeniert werden, indem also die Prägungen im Kindesalter einer intellektuellen Reflexion unterzogen werden.
In der Sekundärliteratur zum Leben und Werk Adornos wird regelmäßig dessen Bezugnahme auf seine eigenen Kindheitserfahrungen herausgearbeitet, wie dies beispielsweise Schweppenhäuser (1996) oder Claussen (2005) darstellen. Demzufolge scheint bei Adorno die Möglichkeit einer unvermittelt oder unreglementiert erscheinenden Erfahrungsweise, insbesondere auch im musikalischen Erleben, an den Modus der kindlichen Neugier gekoppelt zu sein: „Immer wieder zeigt sich in Adornos Lust an der ungebändigten Erfahrung, welche Rolle für ihn seine intime Nähe zur Wahrnehmungsweise der Kindheit spielte“ (Zehentreiter 2019, S. 86). Den genannten Quellen zufolge scheint sich Adorno immer auch etwas Kindliches bewahrt zu haben, ohne dabei kindisch im Sinne von naiv zu sein. Dieser Modus des Kindlichen bezieht sich bei ihm auf eine bestimmte Art der Empfindsamkeit und einer spezifischen „(…) Durchlässigkeit zwischen kindlicher Wahrnehmungsweise und sich selbst genügender intellektueller Genauigkeit“ (Zehentreiter 2019, S. 86). Dieser kindliche Modus der Erfahrung scheint dabei an die spezifischen Qualitäten des Spiels gekoppelt zu sein, wie sie Adorno (a. a. O.) im oben genannten Aphorismus beschreibt. Gleichzeitig, und darin liegt die Besonderheit, wird diese Erfahrung fortlaufend einer intellektuellen Reflexion unterzogen. Wenn sich also Adorno in diesem Sinne der eigenen Kindheitserfahrung und den eigenen kindlichen Anteilen zuwendet, ist dies als philosophisch reflektierte Reaktivierung von spielerischen Momenten zu verstehen mit dem Ziel, diese besondere und individuelle Erfahrungsweise zu verallgemeinern. Die Herausforderung dabei besteht also darin, den kindlichen Modus zumindest als zeitlich begrenzten, spielerischen Moment in die Gegenwart der Erwachsenenwelt zu übertragen oder hinüberzuretten.
Während nun die kindliche Erfahrung in der Betrachtung bei Adorno bisweilen verklärt, als unvermittelt und unreglementiert beschrieben wird, zeigt sich auf dem Büchermarkt im psychologischpsychotherapeutischen, teils auch esoterisch konnotierten Selbsthilfesegment eine andere Perspektive auf die Kindheit: Das bereits erwähnte Buch von Ben Furman (2013) ist dabei wohl als ein wegweisendes „Standardwerk“ zu betrachten. Auch in den psychotherapeutischen Ansätzen der sogenannten Schematherapie, wie diese insbesondere Roediger (2016) konzipiert, wird Bezug genommen auf kindliche Anteile der Persönlichkeit. Speziell diese wissenschaftlich fundierten Ansätze werden ihre Berechtigung haben und mögen auf der individuellen Ebene psychotherapeutisch hilfreich sein. Andere Publikationen wiederum lassen sich mehr im esoterischen Spektrum verorten, wenn beispielsweise Susanne Hühn (2016) in ihrem Buchtitel aus dem Schirner-Verlag „Die Heilung des inneren Kindes“ in Aussicht stellt. Diese Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit und verletzenden Erfahrungen aus der eigenen Kindheit soll der Autorin zufolge mit „sieben Schritten zur Befreiung des Selbst“ verbunden werden. Dass die esoterische Lebenshilfe dabei nicht zufällig die Entfremdung durch kapitalistische Verhältnisse kritisiert und auf ein befreites Subjekt abzielt, hat unter anderem Claudia Barth (2011) gewinnbringend aufgezeigt, was an dieser Stelle nur am Rande erwähnt werden soll. Hier scheint allerdings – im Gegensatz zum Blickwinkel von Adorno der Fokus darauf gerichtet zu sein, die Perspektive auf die eigene Kindheit nachträglich zu verwandeln und sich den verinnerlichten, kindlichen Anteilen zuzuwenden. Die Popularität von derartigen Ansätzen verweist auf ein allgemeines Bedürfnis, in therapeutischen Verfahren „das innere Kind” durch nachträgliche Zuwendung und Bedürfnisbefriedigung zu adressieren (Chopich & Paul 2014; Stahl 2015). Dabei steht offenbar nur bedingt die Aufarbeitung der Vergangenheit im Sinne von psychoanalytischen Verfahren im Vordergrund, sondern mehr das “Loslassen” im Sinne einer inneren Distanzierung von negativen, biographischen Erfahrungen. Stefanie Stahl (2015) spricht diesbezüglich vom „Überschreiben“ dieser Erfahrung, „(…) um „negative Erinnerungen neu zu gestalten“ (ebd., S. 149).
In dem Wunsch, Zugang zum inneren Kind zu finden, scheint sich also auch ein Bedürfnis nach einer positiv konnotierten, kindlichen Erfahrung auszudrücken, wie sie im Spiel der Kinder zum Ausdruck kommt: ein unmittelbar-sinnliches Erleben, in dem noch keine Entfremdung vom Gegenstand des Spiels durch die Vermittlung über das Tauschprinzip stattgefunden hat, wie es auch Adorno (a. a. O.) in dem oben genannten Aphorismus skizziert hat. Demzufolge lässt sich der Wunsch, in Kontakt mit dem “inneren Kind” zu treten, nicht nur als autobiographische Reflexion, sondern auch als Bedürfnis nach einer unverstellten, unreglmentierten Erfahrung deuten. Stahl (2015) verortet diese positiv konnotierten, inneren Anteile in dem Modus als „Sonnenkind“ (…) Es steht für alles, was fröhliche Kinder ausmacht: Spontaneität, Abenteuerlust, Neugierde, Selbstvergessenheit, Vitalität, Tatendrang und Lebensfreude (ebd., S. 23). Hier zeigt sich bemerkenswerterweise ein Berührungspunkt zu der Vorstellung von kindlicher Erfahrungsformen, wie sie bei Adorno und Huizinga skizziert und dem spielerischen Modus zugeschrieben werden. Dabei ist zu unterscheiden, dass diese Form der befreiten Erfahrung bei Adorno immer im Verhältnis zur Gesellschaft gedacht wird, die diese Erfahrungsform durch Entfremdung und Verdinglichung beständig restringiert (Dumbadze & Hesse, 2015).
Allerdings zeigt sich in den teils psychotherapeutisch, teils spirituell konnotierten Bemühungen, den Zugang zum “inneren Kind” wieder zu erschließen, eine andere Stoßrichtung. Dabei scheint der kindliche Status an sich rekonstruierbar zu sein – durch die (therapeutisch angeleitete), autobiographische Rückbesinnung auf das eigene Erleben in Kindheitstagen. Das innere Kind wird dabei tendenziell als verletzlich und potentiell beschädigt imaginiert. Hierbei wird der Modus als Kind und die Erinnerung an die subjektiv erlebte Kindheit reaktiviert, um sich idealerweise von aktuellen, psychischen Belastungen zu befreien, die aus den Erlebnissen der Kindheit resultieren, indem also die betreffende Person durch eine Art der ‚Selbstbeelterung‘ den Bedürfnissen des inneren Kindes in sich selbst nachspürt und diese nachträglich zu erfüllen sucht. Dabei werden spezifisch kindliche Bedürfnisse wie Geborgenheit und Schutz adressiert (Chopich & Paul 2014; Stahl 2015).
Die Wirksamkeit von solchen therapeutischen Verfahren und esoterisch inspirierten Selbsthilfekonzepten soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Und es erscheint kaum verwerflich, sich im Rahmen einer tiefenpsychologisch oder psychoanalytisch orientierten Psychotherapie den eigenen, biographischen Belastungen, auch mit Blick auf die eigene Kindheit zu stellen und einer individuellen Aufarbeitung der Vergangenheit Raum zu geben. Insbesondere bei der Behandlung von frühen Traumatisierungen bleibt es aus fachlich-psychotherapeutischer Sicht wohl unerlässlich, sich der kindlichen Lebensphase zuzuwenden, in der diese Traumatisierung entstanden ist (vgl. Laplanche & Pontalis 1973, S. 513f; Sachse 2010; Roediger 2016).
Darüber hinaus verweisen die fundierten, psychotherapeutischen Ansätze, wie der von Roediger (2016) darauf, dass die ‘gesunde’ Persönlichkeit im Idealfall zwischen dem Kind-Modus und Erwachsenenmodus situationsadäquat wechseln, aber auch auf beide Modi zugreifen kann. Auch Stahl (2015) spricht von der Notwendigkeit, das „Erwachsenen-Ich” (ebd., S. 140) zu stärken. Um die negativen Facetten des inneren Kindes zu „heilen”, das sie als „Schattenkind” bezeichnet, benötige die betreffende Person demzufolge“ (…) einen starken und haltspendenden Erwachsenen” (ebd.), der wiederum in der betreffenden Person selbst verortet sein soll. Für die Überlegungen in diesem Essay lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass das Kind in solchen therapeutischen Konzepten mehr als vulnerabel und schutzbedürftig imaginiert wird (Stahl 2015), während bei den Bezugnahmen auf die Kindheit bei Adorno mehr die unbeschwerten, spielerischen Momente dieser Lebensphase in Erinnerung gerufen werden.
Während allerdings Kinder im Spiel durchaus zu reflektieren wissen, dass sich die Spielsituation de facto von der Realität unterscheidet (vgl. Huizinga 2013 (1938], S. 16f) zeigt sich insbesondere in der Wunschvorstellung nach einem kindlich-spielerischen Zugang zur Welt die Sehnsucht danach, dass dieser kindlich-verklärende Blick auf die Wahrnehmung der Erwachsenenwelt übertragen werden könnte: wertfrei, achtsam, unmittelbar und positiv. Durch diesen Blickwechsel soll sich im Idealfall qua Wunschdenken die Realität und Gegenwart selbst verändern – oder zumindest anders, also positiv und optimistisch verklärt wahrgenommen werden. Diese optimistische wie auch optimierte Perspektive auf die Gestaltung der eigenen Biographie und die damit verbundene Verantwortung, das Beste aus dem eigenen Leben zu machen, fasst Stefanie Stahl pointiert zusammen: „Ich persönlich glaube daran, dass wir nur dieses eine Leben haben, und das muss gelebt werden, jeden Tag, in vollen Zügen“ (Stahl 2017, S. 123). Die Befassung mit dem „inneren Kind“ soll also den gesamten Lebensvollzug auf eine positive Weise verändern, und nicht auf bestimmte, zeitlich begrenzte Momente der kindlichen Erfahrungsweise begrenzt werden.
Ein Versuch, sich dem Gegenstand des Spiels und seinem imaginierten Kontext anzugleichen und so zu tun, als ob die Welt des Spiels der Realität entsprechen würde.
Hingegen zeigt sich in dem mimetischen Moment des kindlichen Spiels, wie ihn Adorno beschreibt, ein Versuch, sich dem Gegenstand des Spiels und seinem imaginierten Kontext anzugleichen und so zu tun, als ob die Welt des Spiels der Realität entsprechen würde: „Denn das Spielerische ist das mimetische Vermögen in jedem Lebewesen; und wohl nur im Menschen kann es reflektierte Form annehmen“ (Dumbadze & Hesse 2015, S. 9). Während sich also die Welt der spielenden Kinder versuchsweise der Realität der Erwachsenen anzugleichen versucht und diese gleichzeitig transzendiert, scheint es aus Perspektive der Erwachsenen verlockend, diesen Weg quasi in der umgekehrten Richtung zu beschreiten: also in Form einer mimetischen Angleichung an die spielerische Welt der Kinder, zumindest für einen zeitlich und räumlich begrenzten Moment.
Doch in welchem Phänomen lässt sich solch ein Versuch wiederfinden? Der magische, vom Alltag entrückte Moment an sich wird häufig in bekannten Hits der Popkultur besungen. Dabei scheint es auch hier um einen Moment der unverstellten, spontanen Erfahrung zu gehen. Bei der zum Schlager neigenden Band „Die Toten Hosen“ wird dieser Moment wie folgt beschrieben: „An Tagen wie diesen / wünscht man sich Unendlichkeit / An Tagen wie diesen / haben wir noch ewig Zeit / wünsch’ ich mir Unendlichkeit.“3 Es scheint also um einen besonderen Augenblick zu gehen, in dem der Moment an sich als Zeitspanne und Erlebniszeitraum der Vergänglichkeit enthoben zu sein scheint – ein Moment also, in dem man entsprechend einer bekannten Redewendung „die Zeit vergisst“, während sich das Erlebte aufgrund seiner Besonderheit in der Erinnerung festsetzt. Darin findet sich ein Aspekt der (kindlichen) Spielerfahrung wieder, wie sie auch Huizinga (ebd.) charakterisiert – sich in der Welt des popkulturellen Events gleichsam zu verlieren und darin zu versenken, als eine Form der eskapistischen Realitätsflucht.
Auch Andreas Bourani besingt diesen oder einen ähnlichen Moment: „Ein Hoch auf uns / Auf dieses Leben / Auf den Moment / Der immer bleibt / Ein Hoch auf uns / Auf jetzt und ewig / Auf einen Tag Unendlichkeit.“4 Auch hier finden sich fast schon metaphysische, spirituelle Begriffe wie die Vorstellung einer zeitlichen Unvergänglichkeit – womit sich auch ein Gefühl der Unsterblichkeit assoziieren lässt. Jedoch wird diese Vorstellung direkt wieder eingeschränkt durch die paradoxe Formulierung, dass diese Unendlichkeit zeitlich nur „auf einen Tag“ beschränkt sein soll – mutmaßlich auf das Datum des Bourani-Konzerts, ganz exklusiv, fans only.
Ganz im Sinne der Thesen zur Kulturindustrie, wie sie Gerhard Schweppenhäuser im Werk von Adorno rekonstruiert, scheint also in diesen popkulturellen Produkten ein Moment von kindlich-spielerischer Erfahrung auf: in dem die sonst durch Entfremdung verstellte Emotionalität unvermittelt erfahrbar zu werden scheint (vgl. Schweppenhäuser 1996, S. 144-158). Das Event und das damit verbundene Erlebnis werden damit selbst zum Produkt in Warenform, mit dem Werbeversprechen als Verkaufsargument, das Nacherleben von kindlich-unverstellter Erfahrung zu ermöglichen. Und in diesem besonderen Moment, wie er von den oben genannten Musiker_innen besungen wird, lässt sich ein zentrales Kennzeichen des Spielerischen wiederfinden, wie es Huizinga (ebd.) charakterisiert: ein transzendierendes, entrückendes Moment, vergleichbar mit einem magischen, religiösen Ritual, wie dies explizit auch in den oben genannten Songtexten zum Ausdruck kommt, wenn von einem Moment der „Unendlichkeit“ oder „Unsterblichkeit“ gesungen wird, der beim popkulturellen Erlebnis erfahrbar werden soll. Und unter dem Aspekt, dass nach Huizinga Kultur an sich durch das Spiel entsteht, lässt sich schlussfolgern, dass auch in solchen popkulturellen Erlebnissen, selbst wenn sie in den genannten Songtexten den Fans nur als Werbeversprechen in Aussicht gestellt werden, spielerische Momente gleichsam aufgespeichert sind. Wenn nun wiederum Schweppenhäuser (1996) darauf hinweist, dass Adornos Kritik an der Kulturindustrie oft als eine distinguierte, bildungsbürgerliche Kritik an der proletarischen Massenkultur missverstanden werde, ergibt sich ein zusätzlicher Aspekt: Schweppenhäuser rekonstruiert in den Thesen von Adorno zur Kulturindustrie insbesondere den folgenden Punkt, der diesem Autor zufolge in der Rezeption der genannten Thesen oft vernachlässigt werde: dass auch in popkulturell geformten Produkten der Kulturindustrie ein Moment von Wahrheit aufscheint, wenn das Bedürfnis nach einer unreglmentierten Erfahrung adressiert wird, nur allerdings in einer musikalisch standardisierten Form, worauf die erwähnten Songbeispiele von Andreas Bourani und den Toten Hosen hinweisen. In den dazugehörigen Musikvideos wird dann auch bildgewaltig und suggestiv illustriert, wie durch ganz bestimmte Erlebnisse und Momente diese Art der Erfahrung ermöglicht werden soll, nicht zuletzt auch durch die dabei gezeigten Konzertmitschnitte.5
Während also bei der Hinwendung zum “inneren Kind” die erwachsene Person ihren fortbestehenden, kindlichen Anteilen nachspürt, geht es bei dem Nacherleben der spielerischen Erfahrung, beispielsweise durch popkulturell initiierte Erlebnisse darum, sich wie ein Kind erneut zu erleben, indem sich diese Erfahrung im spielerisch erlebten, transzendierenden Moment aktualisiert. Während die psychotherapeutische Auseinandersetzung mehr mit dem inneren Kind auf die autobiographisch erlebte Erfahrung als Kind rekurriert, scheint in der kindlichen Erfahrung, wie sie Adorno rekonstruiert, der utopische Wunsch auf, sich selbst im Erwachsenenalter erneut wie ein Kind zu erleben. Was könnte dieser Modus „wie ein Kind” nun bedeuten und wie könnte dieser eingeholt werden? Auch wenn die Kulturindustrie nach Schweppenhäuser (1996) ein ideologisch geprägtes, „falsches Bewusstsein“ (Lukacs 1923, S. 72) erzeugt und perpetuiert, scheint in ihren Produkten doch ein Hinweis auf, wie dieser kindlich-spielerische Modus vorstellbar – und vielleicht auch erreichbar wäre: im besagten oder besungenen Moment. Das Bedürfnis nach diesem unverstellten, transzendierenden Moment, der die zeitliche Vergänglichkeit zu überschreiten scheint und „für immer bleibt”, scheint im Spiel der Kinder aufzuscheinen, wie es Adorno und Huizinga beschreiben – in der Vorstellung, als ob das spielerische Erleben der Realität entsprechen würde.
In seiner Aphorismensammlung “Richtig falsch” greift Michael Hirsch (2019) eine ähnliche Denkfigur auf und verweist auf die Möglichkeit, das richtige Leben im Falschen im praktischen Vollzug zu erproben – also ein Probehandeln, als ob diese kritisch intendierte Praxis etwas am Ganzen verändern würde und die praktizierte Kritik „(…) über uns hinaus eine modellhafte, exemplarische Bedeutung hätte“ (ebd., S. 175) und sich in Anlehnung an Kant zu einem kategorischen Imperativ verallgemeinern lassen könnte.
Dabei versucht Hirsch das inflationär zitierte Diktum von Adorno, wonach es „(…) kein richtiges Leben im falschen“ (Adorno 2013 [1969], S. 42) geben könne, gewissermaßen auf den Kopf zu stellen: solange kritische Praxis an dem Bewusstsein festhält, dass sie für sich genommen nicht die zugrundeliegende Gesellschaftsstruktur verändern wird, ermöglicht dieses Bewusstsein ein experimentelles Probehandeln als utopischen Vorschein einer grundlegend befreiten Gesellschaft.
Wenn nun also das Spiel der Kinder auch entwicklungspsychologisch als eine Art Probehandeln verstanden werden kann (DeLoache, Eisenberg & Siegler 2005) könnte die Erprobung einer kritischen Praxis ebenso spielerisch erfolgen – nur quasi in die umgekehrte Richtung. Während das Probehandeln im Spiel der Kinder progressiv auf die Zukunft gerichtet ist, also beispielsweise durch die Versorgung der Babypuppe oder durch die Arbeit an Baustellen mit Spielzeugfahrzeugen das Handeln der Erwachsenen imitiert, erlernt und erprobt wird, scheint dem Spieltrieb der Erwachsenen oft ein rückwärtsgewandtes, regressives Moment innezuwohnen. Dies lässt sich auf die bereits erwähnte Sehnsucht zurückführen, die unbeschwerten Momente der Kindheit erneut nachzuerleben. Damit ist häufig eine Realitätsflucht intendiert, also die Flucht vor den Verpflichtungen des Alltags (vgl. Huizinga, a. a. O., S. 24f) und der Wunsch nach etwas weniger Entfremdung, die eine Existenz in spätkapitalistischen Verhältnissen wohl zwangsläufig mit sich bringt.
Daraus ergibt sich die Frage, wie sich das spielerische Probehandeln im „als ob“-Modus auch progressiv wenden lässt. Während ähnliche Versuche auch in linksalternativ-hedonistischen Milieus, sich bei spezifischen Events ein unvermittelt erfahrbares Erlebnis zu verschaffen, meist kulturindustriell überformt und nicht selten von regressiven Bedürfnissen bestimmt sind, scheint in den Versuchen einer kritischen Praxis im Alltag oft etwas lustlos-moralistisches, also zumindest kein lustvollspielerisches Moment auf. Somit scheint weder der Rave unter Drogeneinfluss noch die vegane Fairtrade-Vollwertkost langfristig und widerspruchsfrei auf ein richtiges Leben im falschen hinzustreben. Wenn nun aber die Möglichkeit denkbar wird, dass kritisch-politische Praxis ihren bedeutungsschweren Ernst verliert und sich nicht von der Erwartung überfrachten lässt, in der gesellschaftlichen Realität eine bedeutende Veränderung zu erzielen, könnte sich diese Praxis spielerisch in dem Bewusstsein erproben, dass sie sich in einem „als ob“-Modus befindet. Was Kindern scheinbar unbeschwert gelingt – der Perspektivwechsel zwischen dem Konjunktiv der spielerischen Realität und der oft als Imperativ erlebten, faktischen Realität, müsste also erst wieder eingeübt werden. Dabei ergibt sich die Herausforderung, weder ausschließlich dem einen noch dem anderen Modusverhaftet zu bleiben – also weder einer Lebenswelt, in der Pippi Langstrumpf mit der Parole „Wir machen uns die Welt, sie uns gefällt“ als anarchistisches role model gilt, noch dem alleinigen und einseitigen Fokus auf eine materialistische Perspektive, die im schlechten Sinne die Totalität der Gesellschaft fatalistisch als unveränderbar hinnimmt.
Das richtige Leben im falschen zu erproben in dem Bewusstsein, dass es sich dabei um eine Fiktion im „als ob“-Modus handelt.
Vor diesem Hintergrund lässt sich ein Plädoyer für eine politische Praxis als Spielhandlung vorbringen – selbstverständlich nicht in Form der Gamification von rechtsterroristischen Anschlägen, beider sich die Täter in real life einer Ästhetik bedienen, die dem Videospiel und den sogenannten „Ego-Shootern” entstammt (vgl. Lang 2021, S. 171). Progressiv gewendet könnte diese politisch konnotierte Spielhandlung bedeuten, das richtige Leben im falschen zu erproben in dem Bewusstsein, dass es sich dabei um eine Fiktion im „als ob“-Modus handelt. Gleichzeitig müsste solch eine spielerische Praxis wohl auch ein transzendierendes Moment beinhalten, wie er von Andreas Bourani und den Toten Hosen beschworen und ihrem Publikum verkauft wird. Dabei würde also der Modus der Probehandlung auf den Modus treffen, der das Realitätsprinzip für einen als unmittelbar erlebten Moment transzendiert. Diese Unmittelbarkeit, die Adorno im Spiel der Kinder sieht, könnte vermittelt werden durch den Modus des „als ob” unter Beibehaltung der selbstkritischen Erkenntnis einer falschen Unmittelbarkeit.
Abschließend soll festgehalten werden, dass sich diese Überlegung zur kritisch-politischen Praxis als Spielhandlung in einer emanzipatorischen Form deutlich unterscheiden würde von einem selbsthilfezentrierten Fokus auf die eigene Innerlichkeit. Zwar ergibt sich zunächst nur für das Individuum die Möglichkeit der spielerisch konnotierten, unreglmentierten Erfahrung, die dann jedoch verallgemeinert werden müsste, wenn sie auf eine nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich befreiende Praxis abzielen soll, worauf auch Hirsch (2019) hinweist.
Wenn nun Stefanie Stahl (2015) in ihrem psychologischen Selbsthilferatgeber fordert, „das Kind in dir muss Heimat finden“, so ist diesem Vorschlag vor dem Hintergrund der hier dargestellten Überlegungen unter Vorbehalten zuzustimmen. Stahl (2015) schlägt in ihrem Ansatz vor, in sich selbst „eine liebevolle und geborgene Heimat [zu] finden“ (ebd., S. 277). Demzufolge bietet diese Art der Selbstfindung die Möglichkeit, nicht nur die Entfremdung gegenüber sich selbst zu überwinden, sondern dadurch auch das gesellschaftliche Zusammenleben in einen versöhnten Zustand zu über führen: Die Aussöhnung mit dem inneren Kind und seinen verletzten wie spielerischen Anteilen sei schlussendlich „(…) die Voraussetzung dafür, dass wir unsere Beziehungen zu anderen Menschen friedlicher, freundlicher und glücklicher gestalten“ (Stahl 2015, S. 17). Auch wenn Susanne Hühn (2017, S. 6) und Stefanie Stahl (2015, S. 140) klarstellen, dass bei der Befassung mit dem inneren Kind die Erwachsenenperspektive nicht ausgeblendet werden soll, bleiben diese Ansätze stellenweise einseitig einer kindlich-naiven Perspektive und dem magischen Denken verhaftet: als ob die Veränderung der individuellen Praxis und die Aussöhnung mit dem eigenen Bewusstsein an sich schon zum befreiten Individuum und damit in der Summe zur befreiten Gesellschaft führen würde. Die kritische Reflexion darüber, dass es sich dabei um eine spielerische Fiktion und um ein therapeutisches Gedankenspiel im Modus des „als ob“ handelt, bleibt ausgeblendet, wenn man die Ansätze von Hühn (2013) und Stahl (2015) allzu wörtlich nimmt.
Hingegen wäre aus Perspektive einer kritisch-emanzipatorischen Theorie und Praxis die Vorstellung von Heimat mehr in der Konnotation zu finden, wie ihn Bloch verwendet: als Form der utopisch gedachten Beheimatung, wie sie „uns allen in die Kindheit scheint“ (a. a. O.) und damit als retrospektive Utopie, die sich über die individuelle Selbsterkenntnis hinaus als emanzipatorische Form der Erfahrung verallgemeinern lässt, aber erst noch zu verwirklichen wäre: „Die Unwirklichkeit der Spiele gibt kund, dass das Wirkliche es noch nicht ist. Sie sind bewusstlose Übungen zum richtigen Leben“ (Adorno 2003 [1969], S. 306). Wenn also Adorno mit dem inneren Kind spielt, könnte dies bedeuten, kritische Theorie als Gedankenspiel und kritische Praxis als Spielhandlung nicht nur zu begreifen, sondern auch zu erproben. Dann wird in den spielerischen Momenten im Modus der kindlichen Erfahrung das Bewusstsein darüber nicht ausgeblendet, dass sie als utopisch-retrospektiver Vorschein bis auf Weiteres im „als ob“-Modus verbleiben.
Literatur
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Barth, Claudia (2011). Esoterik – die Suche nach dem Selbst. Sozialpsychologische Studien zu einer Form moderner Religiosität. Bielefeld: Transcript.
Bloch, Ernst (1985). Das Prinzip Hoffnung. Band 3. Berlin: Suhrkamp.
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Stahl, Susanne (2015). Das Kind in dir muss Heimat finden. Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme. München: Kailash.
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Zehentreiter, Ferdinand (2019). Adorno. Spurlinien seines Denkens. Eine Einführung. Hofheim am Taunus: Wolke Verlag.
Fußnoten
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An dieser Stelle sei angemerkt, dass eine kritische Diskussion zu der Frage, inwiefern die Schrift von Huizinga aus dem Jahr 1938 derzeit noch Aktualität beanspruchen kann, hier nicht weiter verfolgt werden kann. Auch ohne eine historische Verortung und vertiefte Kontextualisierung treten bei dieser Quelle durchaus problematische Aspekte zu Tage, wenn Huizinga beispielsweise aus einer kulturanthropologischen Perspektive die „hochentwickelte Kultur“ von der „archaischen Gesellschaft“ unterscheiden will (ebd., S. 65). Darüber hinaus ist anzumerken, dass im Sinne der Kritischen Theorie nach Adorno eine positiv festlegbare, essentialistische Wesensbestimmung des Menschen an sich kaum denkbar erscheint, sondern an einer „Negativen Anthropologie“ festzuhalten ist, wie sie insbesondere Ulrich Sonnemann (2011) in der gleichnamigen Monographie entwickelt hat. ↩
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https://www.youtube.com/watch?v=NwGi2XMel-0, zuletzt abgerufen am 28.11.2021. ↩
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https://www.dietotenhosen.de/diskographie/songs/tage-wie-diese, zuletzt abgerufen am 20.01.2022. ↩
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https://www.goethe.de/resources/files/pdf132/andreas-bourani—auf-uns.pdf, zuletzt abgerufen am 30.11.2021. ↩
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https://www.youtube.com/watch?v=j09hpp3AxIE sowie https://www.youtube.com/watch?v=k9EYjn5f_nE, zuletzt abgerufen am 22.01.2022. ↩